Nach den monströsen Massakern der Hamas an der israelischen Zivilbevölkerung am 7. Oktober, bei denen die Hamas über 1200 Menschen brutal ermordete, rund 3000 verletzte und über 200 als Geiseln verschleppte, hat die Bundesregierung die von Angela Merkel eingeführte und vom Bundestag im BDS-Beschluss von 2019 sekundierte Formel von Israels Sicherheit als Teil deutscher Staatsräson aufgenommen, um Israel ihre volle Solidarität und Unterstützung zu versichern und Antisemitismus entschlossen zu bekämpfen.((Zur Kritik des Staatsräsonbegriffs in diesem Kontext siehe https://geschichtedergegenwart.ch/staatsraeson-zum-gebrauch-des-begriffs-nach-dem-7-oktober/.))
Angesichts des bedrohlichen Anstiegs antisemitischer Straftaten in Deutschland und der anhaltend schlechten Sicherheitslage im Nahen Osten sind beide Ziele der Staatsräson grundsätzlich zu begrüßen. Doch die aktuelle Interpretation von Israels Sicherheit und entschlossener Antisemitismusbekämpfung als deutscher Staatsräson führt zu Einschränkungen der Versammlungs-, Meinungs-, Kunst-, und Wissenschaftsfreiheit. Diese Interpretation der Staatsräson stützt sich auf die nicht klar abgegrenzte Antisemitismusdefinition der International Holocaust Remembrance Association (IHRA), auf deren Grundlage legitime Kritik an der in Teilen rechtsextremen israelischen Regierung als Antisemitismus charakterisiert werden kann; in den letzten Jahren hat sich dadurch der diskursive Raum zulässiger Kritik an Israel in Deutschland verengt. Eine präzisere Antisemitismusdefinition ist nötig, um die bestehende Spannung zwischen Staatsräson und Grundrechten abzuschwächen. Diese wird nur durch eine Weiterentwicklung der deutschen Erinnerungskultur implementiert werden können, durch die auch das Schicksal der Palästinenser und ihre bis heute andauernde Entrechtung als eine indirekte Folge des Holocaust anerkannt wird.
Staatsräson und Antisemitismus
Das Bundeskabinett hat die erweiterte Arbeitsdefinition von Antisemitismus der IHRA im Jahr 2017 zur Kenntnis genommen und empfiehlt seitdem ihre umfassende Berücksichtigung. Die IHRA definiert Antisemitismus als „eine bestimmte Wahrnehmung von Jüdinnen und Juden, die sich als Hass gegenüber Jüdinnen und Juden ausdrücken kann. Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen.“ Die erweiterte Definition beinhaltet zudem folgenden Satz zu israelbezogenem Antisemitismus: „Darüber hinaus kann auch der Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, Ziel solcher Angriffe sein.“
Die IHRA-Definition wird in der wissenschaftlichen Diskussion wegen ihrer Fokussierung auf israelbezogenen Antisemitismus und die vage Definition desselben durch eine Reihe von Beispielen kritisiert (1,2,3,4), weshalb die UN-Sonderberichterstatterin für Rassismus und Fremdenfeindlichkeit die Mitgliedstaaten auffordert (Abs. 71ff.), die Definition nicht weiter zu verwenden. Die Definition kann nicht losgelöst vom politisch-historischen Kontext des Nahostkonflikts verstanden werden, der auch ein internationaler Deutungskampf um die Analyse der aktuellen Situation, der Geschichte und der sich jeweils daraus abzuleitenden Schuld ist. Die Definition ist ein Teil dieses Deutungskampfes, insofern sie es ermöglicht, dass legitime Kritik an der israelischen Politik als antisemitisch kategorisiert wird. So lässt sich das die Definition präzisierende Beispiel „das Aberkennen des Rechts des jüdischen Volkes auf Selbstbestimmung, z.B. durch die Behauptung, die Existenz des Staates Israel sei ein rassistisches Unterfangen“ so interpretieren, dass bereits die Rede von Apartheid als antisemitisch eingestuft wird. Auch der von der IHRA-Definition unterschiedene, aber dennoch oft als einfacher Antisemitismus-„Schnelltest“ im Zuge der IHRA-Definition verwendete, „3-D-Test“ lässt viele israelkritische Äußerungen antisemitisch erscheinen (1, 60ff.; 2, 293ff.). So kann als Doppelstandard schon kritisiert werden, dass Wissenschaftler*innen oder Aktivist*innen dem Nahost-Konflikt mehr Aufmerksamkeit widmen als anderen Konfliktgeschehen.((Um hier Antisemitismus zu attestieren, müsste zunächst ausgeschlossen werden, dass andere Erklärungen plausibel sind. Insofern es keinen anderen engen Partner des Westens gibt, der in einem langwierigen Gebietskonflikt involviert ist und dabei unterstützt wird, ist es naheliegend, dass kritische Wissenschaftler*innen ein besonderes Interesse an diesem Konflikt haben.)) Die anderen beiden vage formulierten Facetten des „3-D-Tests“, Delegitimierung und Dämonisierung von Israel, können selbstredend antisemitisch sein. Sie sind aber auch erwartbare Elemente der politischen Kommunikation der unter Besatzung lebenden Palästinenser und mit ihnen solidarischen Menschen, und deshalb ohne weitere Spezifikation keine geeigneten Kriterien für Antisemitismus.((Zur Problematisierung der Vagheit und Extension des relativ neuen Konzepts des israelbezogenen Antisemitismus wurde folgendes Gedankenexperiment vorgeschlagen: Man stelle sich einen Staat „Christiana“ vor, der in allen wesentlichen Aspekten Israel gleicht, aber katholisch ist, wie die katholischen Kreuzfahrerstaaten des 11. Jahrhundert. Christiana würde wohl in grundsätzlich gleicher Weise kritisiert, wie heute Israel (https://www.thenation.com/article/archive/myth-new-anti-semitism/).))
Im Bundestagsbeschluss zur Einrichtung des Amts des Antisemitismusbeauftragen Anfang 2018 wird diesem Fokus auf israelbezogenen Antisemitismus entsprechend nur die Gefahr durch israelbezogenen und „durch Zuwanderung erstarkenden Antisemitismus“ ausführlich erläutert, obwohl „der größte Teil antisemitischer Delikte […] weiterhin rechtsextrem motiviert“ sei. In einer Antwort auf eine schriftliche Frage zum Umsetzungsstand erläutert die Bundesregierung 2019, dass die Empfehlung zwar nicht rechtlich bindend sei, aber von ihr dennoch – als politisches Signal – handlungsleitende Wirkung für „alle Anwender“ ausginge (dazu kritisch). Innerhalb der Bundesverwaltung sei die Anwendung in Sicherheitsbehörden, dem Verfassungsschutz, in der Definition zu politisch motivierter Kriminalität, der politischen Bildung, der Richter*innenausbildung, und der Demokratieförderung implementiert.
Auch der BDS-Beschluss des Bundestags von 2019, der die „Boycott, Divestment and Sanctions“-Bewegung (BDS) als antisemitisch verurteilt, begründet dies mit der erweiterten IHRA-Definition (kritisch dazu siehe 1,2,3). Als „Teil der deutschen Staatsräson“ werden dabei sowohl „das unbedingte Nein zum Hass auf Jüdinnen und Juden“ als auch die Sicherheit Israels genannt. Es gibt keine Erwähnung des Kontexts des Israel-Palästina-Konflikts und auch keine Hinweise zur Abwägung, welche Kritik an der israelischen Regierung als Konfliktpartei nach Ansicht des Bundestages nicht antisemitisch sei. Der Satz „Wer Menschen wegen ihrer jüdischen Identität diffamiert, ihre Freizügigkeit einschränken will, das Existenzrecht des jüdischen und demokratischen Staates Israel oder Israels Recht auf seine Landesverteidigung in Frage stellt, wird auf unseren entschiedenen Widerstand stoßen“ lässt vielmehr zu, dass auch die Kritik an der spezifischen Art und Weise, wie Israel sein Recht auf Landesverteidigung auslegt, als antisemitisch eingestuft wird.
In Reaktion auf den 7.10. haben die Koalitionsfraktionen in einem Entschließungsantrag von der Bundesregierung gefordert, ein Betätigungsverbot von BDS zu prüfen.((Der Antrag ist zunächst an den Ausschuss zur Beratung übersandt und noch nicht verabschiedet.)) In diesem Antrag wird im Abschnitt der Erörterung des zunehmenden Antisemitismus auch „vermehrt[er] israelbezogener Antisemitismus linker Milieus“ beklagt und kritisiert, dass es international „viele Akademikerinnen und Akademiker sowie Künstlerinnen und Künstler [waren], die einseitig Position gegen Israel bezogen oder sich gar mit der Hamas solidarisierten.“ Dadurch wird die Unterstützung der antisemitischen Hamas als eine einfache Steigerungsform der Kritik an Israel dargestellt – wodurch letztere delegitimiert wird. Bemerkenswert ist an diesem Satz insbesondere der Vorwurf der Einseitigkeit, weil erstens Einseitigkeit ein übliches Element politischer Rhetorik in Konfliktsituationen ist; zweitens der Entschließungsantrag selbst den implizit formulierten Anspruch an Ausgeglichenheit gerade nicht einlöst, weil er vor dem Hintergrund des aktuellen Kriegsgeschehens eine einseitige Parteinahme für Israel darstellt; und drittens, weil diese Einseitigkeit mit der spezifischen deutschen Geschichte und Verantwortung begründet ist, was im Umkehrschluss gerade vermuten lassen müsste, dass die internationalen Perspektiven potentiell weniger einseitig seien, als die deutsche – noch dazu, wenn sie von Wissenschaftler*innen artikuliert werden.
Diskursverengungen und Grundfreiheitseinschränkungen
Die Anwendung der IHRA-Definition durch staatliche und parastaatliche Stellen kann zu Unklarheiten bei der Differenzierung von Kritik an Israel und israelbezogenem Antisemitismus führen. Angesichts der deutschen Staatsräson liegt es nahe, dass in solchen Fällen zu einer strengen Auslegung tendiert und der Bereich des Antisemitismus weit verstanden wird. Der philosophische Vater der heutigen Staatsräson, Jürgen Habermas, hat dies nach dem Angriff der Hamas selbst vorgeführt. Zusammen mit drei anderen Philosoph*innen verurteilt er die Rede von „genozidalen Absichten“ bei der Kritik Israels aktueller Militäraktion als “vollends” (Richtung Antisemitismus)((Die geraunte Verknüpfung dieses Urteils mit der Kritik an antisemitischen Reaktionen auf Israels Vorgehen lässt nur den Schluss zu, dass die Autor*innen die Rede von Genozid für antisemitisch halten.)) verrutschter Maßstab, obwohl das Konzept von angesehenen Rechtsexpert*innen und Genozidforschenden diesbezüglich diskutiert wird (1,2,3,4,5,6,7). Habermas et. al. begründen dies damit, dass sich mit dem demokratischen Selbstverständnis der Bundesrepublik „eine politische Kultur [verbinde], für die im Lichte der Massenverbrechen der NS-Zeit jüdisches Leben und das Existenzrecht Israels zentrale, besonders schützenswerte Elemente sind.“((Siehe diese Gegenäußerung internationaler Wissenschaftler*innen, die Habermas et. al. auf die Universalität der Menschenwürde hinweisen. Dass dies gegenüber dem Diskurstheoretiker Habermas, der sich stets gegen Relativismus und Machtpolitik gestellt hat, nötig ist, ist bemerkenswert. https://www.theguardian.com/world/2023/nov/22/the-principle-of-human-dignity-must-apply-to-all-people))
Entsprechend ist in der Folge der skizzierten Implementierung der IHRA-Definition und insbesondere des BDS-Beschlusses eine Zunahme von Antisemitismusvorwürfen und damit verbundenen (Forderungen von) Veranstaltungsabsagen und Kündigungen bzw. Rücktritten zu verzeichnen (1,2,3,4,5). Im Zentrum solcher Vorwürfe steht die Nähe zu oder Unterstützung von BDS, wobei oft schon analytische Konzepte wie Apartheid (dazu 1,2,3,4,5,6; die israelische Zeitung Haaretz wundert sich über die Ungleichzeitigkeit zwischen Felix Kleins klarer Positionierung und der eigenen Debatte über Apartheid), Kolonialismus (dazu 1,2,3) und teilweise sogar Besatzung als israelbezogener Antisemitismus gewertet werden.((Natürlich sind solche Konzepte normative Konzepte und haben im Nahostkonflikt auch die Funktion von politischen Kampfbegriffen – genau wie Antisemitismus. Es ist allerdings genauso wenig Aufgabe des Staates politische Kampfbegriffe zu sanktionieren, wie sie Grundlage staatlichen Handeln sein sollten.)) Neu mit der Kriegsentwicklung hinzugekommen sind die Begriffe „Genozid“ und „ethnische Säuberung“ (dazu 1,2,3,4,5,6,7). So hat der Antisemitismusbeauftragte Felix Klein Kritik an Israel aus dem Kreis von Greta Thunberg durch die Begriffe „Genozid“ und „Apartheidsstaat“ als „in unerträglicher Form antisemitisch“ kritisiert. Der BDS-Beschluss wird entsprechend dafür kritisiert, zu einer Diskursverengung beizutragen, insbesondere internationale Perspektiven auszuschließen. Insgesamt kann – ohne sich die genannten Konzepte dadurch zu eigen zu machen – von einer Verengung der Diskurssituation (1) gesprochen werden, die sich auf die staatliche Kopplung der deutschen Erinnerungskultur mit dem weiten IHRA-Antisemitismusbegriff und dessen Institutionalisierung durch Antisemitismusbeauftragte zurückführen lässt.
Nach dem 7.10. haben sich die diskursiven Bedingungen bezüglich der Äußerung von Kritik an Israel bzw. dessen Regierung,((Insofern Staaten in der Politik üblicherweise als kollektive Akteure adressiert werden, kann von Israel gesprochen werden, wenn das von der Regierung gesteuerte staatliche Handeln gemeint ist. Die oft als antisemitisch kritisierte Substantiierung „Israelkritik“ lässt sich plausibel darauf zurückführen, dass nur bezüglich Israel die Abgrenzung der Kritik des Staates von einer Form gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit notwendig ist – und zwar, seitdem Antisemitismus auch als israelbezogener Antisemitismus verstanden wird. Beispielsweise gibt es keine Form der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit, die hinter der Kritik der USA stehen könnte; und ohne einen solchen Differenzbegriff macht die Rede von „Amerika-Kritik“ keinen Sinn, weshalb es diesen Begriff im Sprachgebrauch nicht gibt. Kurz: Die Rede von „Israelkritik“ ist nicht notwendig antisemitisch, sondern das notwendige Pendant zu israelbezogenem Antisemitismus.)) weiter verengt (1,2,3,4,5). Auf der Frankfurter Buchmesse wurde Slavoj Zizek bezüglich seines Plädoyers für die Kontextualisierung und Analyse der Attacke vorgeworfen, den Terror der Hamas mit Israels Politik zu vergleichen und zu relativieren – noch während seines Vortrags, durch den Hessischen Antisemitismusbeauftragten, der dazu eigens die Bühne erklomm. Die Frankfurter Buchmesse hat die Preisverleihung an die palästinensische Autorin Adania Shibli verschoben. Ein Mitglied der Documenta-Findungskommission trat mit explizitem Hinweis auf den ausgeweiteten Antisemitismusbegriff zurück, nachdem ihm die Unterzeichnung eines BDS-Aufrufs vorgeworfen wurde, woraufhin auch die restliche Kommission zurücktrat. Und eine Konferenz zur Erinnerungskultur, auf der auch regierungskritische jüdische Wissenschaftler*innen sprechen sollten, wurde von der bpb kurzfristig mit Verweis auf die aktuelle Situation abgesagt, was die Veranstalter*innen als „ongoing erosion of the German public sphere“ beklagen.
Solche Diskursverengungen können als materielle – nicht formale – Einschränkung der Meinungs-, Kunst-, bzw. Wissenschaftsfreiheit bewertet werden, wenn staatliche, öffentliche und staatlich geförderte Organisationen sie systematisch implementieren. Dazu zählen insbesondere Organisationen aus Kultur, Medien und Wissenschaft, also die staatliche Kultur(förder)institutionen, der öffentlich-rechtliche Rundfunk und staatliche Forschungs- und Bildungseinrichtungen.((Die Hochschulrektorenkonferenz hat die IHRA-Definition unterstützt und setzt sich für ihre Anwendung an Universitäten ein, was potenziell die Wissenschaftsfreiheit insb. von Postkolonialismus- und Nahost-Forschenden einschränkt. https://www.hrk.de/positionen/beschluss/detail/kein-platz-fuer-antisemitismus/)) Diese Organisationen sind der Neutralität und Pluralität verpflichtet, weil sie – allein durch ihre Größe und Ressourcen – ein großes Gewicht für die öffentliche Meinungsbildung haben. Ob die Diskursverengungen tatsächlich systematisch erfolgen, oder ob es sich eher um eine anekdotische Aneinanderreihung von Einzelfällen handelt, lässt sich nicht quantitativ bestimmen. Die Rückführbarkeit dieser Phänomene auf die staatliche Implementierung spricht aber dafür, dass es sich um eine materielle Einschränkung der Grundfreiheiten handelt. Gleichzeitig lässt sich im öffentlich-rechtlichen Mediendiskurs angesichts des Kriegsverlaufs und nunmehr laut Gaza-Gesundheitsministerium über 16.000 palästinensischen Toten eine Öffnung für Stimmen verzeichnen, die Israels Kriegsführung kritisieren (1,2).
Versammlungsfreiheit und Rassismus
Bei einigen pro-palästinensischen Demonstrationen und Beiträgen wurde die Hamas-Attacke legitimiert oder sogar begrüßt. Darüber hinaus ist nach der Attacke ein Anstieg antisemitischer Straftaten in Deutschland zu verzeichnen (1,2). In der Folge haben die Versammlungsbehörden viele pro-palästinensische Demonstrationen – auch von oder unter Beteiligung von jüdischen Friedensaktivist*innen – verboten oder sie mit strengen Auflagen versehen. Einige dieser Verbote bzw. Auflagen wurden von Amnesty Deutschland, jüdischen Intellektuellen und kritischen Wissenschaftler*innen als pauschale Einschränkung des Grundrechts auf Versammlungsfreiheit kritisiert. Die Polizei habe dabei mitunter die Palästina-Flagge und das Palästinensische Kopftuch verboten, die keine rechtswidrigen Symbole sind. Bei einer Demonstration von linken Jüd*innen in Berlin wurden eine Person wegen eines Plakats mit der Botschaft „From the river to the sea, we demand equality“ festgenommen und das Skandieren von „Stop the genocide“ wurde verboten. Es ist für sich bemerkenswert, die Forderung des demokratischen Grundwertes Gleichheit zu verbieten. Bezogen auf den Konflikt illegalisiert das Verbot darüber hinaus eine in der linksliberalen israelischen Zivilgesellschaft weitgehend konsentierte Grundposition. Das Bundesinnenministerium hatte zuvor die Parole „Vom Fluss bis zum Meer“ als Kennzeichen der Hamas eingestuft und damit quasi verboten. Doch selbst die wegen ihres breiten Interpretationsspielraums nachvollziehbarer Weise oft als israelbezogen-antisemitisch bezeichnete Parole „From the river to the sea, Palestine will/shall be free“ negiert nicht notwendig das Existenzrecht Israels, weil die Freiheit der Palästinenser durch breit diskutierte Friedenslösungen (Zweistaatenlösung und Diskriminierungsfreiheit in Israel oder Diskriminierungsfreiheit bei Einstaatenlösung) umgesetzt werden kann – es bleibt abzuwarten, ob dieses Verbot einer gerichtlichen Prüfung standhält. Diese Fälle sprechen angesichts des durch die IHRA-Definition ausgedehnten Antisemitismusbegriffs für eine systematische und unverhältnismäßige Einschränkung der Versammlungsfreiheit bezüglich israelkritischer Kundgebungen.
Diese Einschränkungen der Versammlungsfreiheit wurden zudem als rassistisch motiviert kritisiert, insofern sie spezifisch die Grundrechte von Menschen aus der palästinensischen Community einschränkten und es Racial Profiling gegeben habe. Diese Einschätzung ist angesichts der Entwicklung der deutschen Erinnerungskultur plausibel. Mit der Konsolidierung der progressiven anti-apologetischen Lehren aus dem ersten Historikerstreit in der deutschen Staatsräson hat sich eine deutsche Identität der erinnerungskulturellen Überlegenheit entwickelt, die mit der Externalisierung des Antisemitismusproblems auf zugewanderte Muslime einhergeht – wofür die nahostkonfliktbezogene IHRA-Antisemitismusdefinition eine Grundlage bietet. Angesichts dieser Konstellation gab es nach dem 7.10. erwartbare Forderungen von prominenten Politiker*innen, dass sich in Deutschland lebende Muslime gegen Antisemitismus positionieren sollten und dass die Staatsangehörigkeit von einem solchen Bekenntnis abhängig gemacht werden sollte. Diese Externalisierung kann als rassistisch bezeichnet werden, wenn sie zu pauschalen Zuschreibungen führt und die Legitimität von Erinnerungskulturen abspricht, in der die Aufarbeitung der Nazi-Verbrechen keine zentrale Stelle einnimmt. Vor dem Hintergrund der mit der Staatsgründung Israels verbundenen Flucht und Vertreibung von Palästinenser*innen ist insbesondere auch ein Verständnis dafür notwendig, dass hier lebende Palästinener*innen eine andere Perspektive einnehmen und sich nicht gleichermaßen mit der durch die NS-Täterschaft begründeten deutschen Verantwortung für Israel identifizieren.
Demokratisierung der Erinnerungskultur
Die Sicherheit Israels und den Kampf gegen Antisemitismus als deutsche Staatsräson nach dem 7.10. zu affirmieren, ist richtig. Nur so kann Deutschland seiner historischen Verantwortung gerecht werden. Konkret kann die aktuelle Interpretation der Staatsräson aber zu den genannten Einschränkungen der Grundrechte führen und antimuslimischen Rassismus verstärken. Sie steht deshalb in einem Spannungsverhältnis zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Insofern die Probleme der aktuellen Interpretation auf die IHRA-Definition zurückgeführt werden können, ist angezeigt, sie zu korrigieren.
Die von internationalen Holocaust- und Nahost-Forschenden((“Zu den Unterzeichner:innen zählen internationale Wissenschaftler:innen, die in der Antisemitismusforschung und in verwandten Bereichen arbeiten, darunter Jüdische Studien, Holocaust-, Israel-, Palästina- sowie Nahoststudien. Die Erklärung profitierte auch von der Einbindung von Rechtswissenschaftler:innen und Vertreter:innen der Zivilgesellschaft.“ Siehe für die Unterzeichnenden https://jerusalemdeclaration.org/.)) entwickelte Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus bietet eine solche Korrektur des Antisemitismusbegriffs:
„Da die IHRA-Definition in wichtigen Punkten unklar und für unterschiedlichste Interpretationen offen ist, hat sie Irritationen ausgelöst und zu Kontroversen geführt, die den Kampf gegen Antisemitismus geschwächt haben. In Anbetracht der Tatsache, dass sie sich selbst als „Arbeitsdefinition“ bezeichnet, haben wir uns um Verbesserungen bemüht, indem wir (a) eine präzisere Kerndefinition und (b) ein kohärentes Set von Leitlinien vorlegen.“
Die Jerusalemer Erklärung definiert Antisemitismus als „Diskriminierung, Vorurteil, Feindseligkeit oder Gewalt gegen Jüdinnen und Juden als Jüdinnen und Juden (oder jüdische Einrichtungen als jüdische).“ Sie unterscheidet klare Fälle von israelbezogenem Antisemitismus und Kritik an Israel, die nicht per se antisemitisch ist. Nicht per se antisemitisch seien demnach u. a. Forderungen nach Gleichberechtigung für alle Bewohner*innen „zwischen dem Fluss und dem Meer“, Vergleiche mit Siedler-Kolonialismus und Apartheid, gängige Formen des gewaltfreien politischen Protestes wie Boykotte, Desinvestitionen und Sanktionen und auch übertriebene politische Kritik (vgl. auch die ähnliche Nexus-Definition). Wie die IHRA-Definition erhebt auch die JDA-Definition keinen Anspruch auf Endgültigkeit, sondern versucht einen politischen Rahmen für kontroverse Debatten zu bieten. Als solcher würde sie eine offenere Diskussion ermöglichen, bei der auch regierungskritische Jüd*innen und Palästinenser*innen mehr Gehör in der deutschen Debatte bekämen, Rassismus und Antisemitismus weniger gegeneinander ausgespielt würden und die Versammlungs-, Meinungs-, Kunst-, Wissenschaftsfreiheit besser geschützt wären.
Zentral ist, dass das materielle Ziel der Staatsräson, Antisemitismus zu bekämpfen und für die Sicherheit Israels einzutreten, durch die JDA Definition nicht schlechter erreicht wird. Vielmehr weisen linke jüdische Stimmen darauf hin, dass die aktuelle Interpretation der Staatsräson das Leben von Jüd*innen weder in Deutschland noch in Israel sicherer mache. Denn die politische und mediale Aufmerksamkeit für israelbezogenen und zugewanderten Antisemitismus steht in einem gefährlichen Missverhältnis zur Bedrohung durch rechtsextremen deutschen Antisemitismus; und die Unterdrückung von legitimem Protest palästinensischer Stimmen kann tatsächlichen Antisemitismus noch befeuern. Darüber hinaus erscheint fraglich, ob die durch diese Diskursverengung politisch quasi alternativlos gestellte Unterstützung der Militärstrategie der rechten israelischen Regierung zur langfristigen Verbesserung der Sicherheitslage Israels beiträgt. Diese Einschätzungen deuten darauf hin, dass sich die Staatsräson in ihrer aktuellen Interpretation teilweise selbst unterläuft.
Insofern die IHRA-Antisemitismusdefinition aber zu einem zentralen Element der deutschen Erinnerungskultur geworden ist, lässt sie sich nicht ohne eine Weiterentwicklung dieser Erinnerungskultur korrigieren. Die aktuelle Erinnerungskultur ist eine Institutionalisierung der Auffassung einer Singularität der Shoah, die im ersten Historikerstreit notwendig war, um die bis dahin in der Mehrheitsgesellschaft anhaltende rechtsnationale Schuldrelativierung aufzubrechen. In der Praxis erschwert diese Erinnerungskultur heute die Anerkennung der deutschen Kolonialverbrechen und des palästinensischen Leidens. In Israel haben die New Historians schon seit den 1980ern zu einer Differenzierung der nationalen Erinnerungskultur und einem neuen Verständnis der palästinensischen Erfahrung beigetragen, wodurch die Nakba im israelischen Diskurs nun offen benannt werden kann, wenngleich gegen Widerstände rechtsextremer Gruppen wie „Im Tirzu“.
In Deutschland werden entsprechende erinnerungspolitische Diversifizierungen im aktuellen zweiten Historikerstreit kontrovers diskutiert. Dabei wird verhandelt, wie sowohl der Holocaust als auch Kolonialverbrechen, genauso wie die palästinensische Nakba als indirekte Folge (auch 1,2) des Holocaust einen Platz in der deutschen Erinnerungskultur bekommen können, ohne dadurch den Holocaust zu relativieren bzw. die progressiv-antirevisionistische Auffassung dessen Singularität aufzugeben (1,2). Diese Diskussionen können als eine demokratisierende Öffnung der deutschen Erinnerungskultur verstanden werden, die der Pluralität der postmigrantischen Gesellschaft besser gerecht wird. Es bleibt zu hoffen, dass diese Debatten von der Politik aufgenommen werden, damit eine grundrechtskonforme Interpretation der Staatsräson gefunden werden kann.
Aufgrund der im Text geschilderten Diskursverengung im Zusammenhang mit der durch das WissZeitVG bedingten akademischen Berufsunsicherheit wird dieser Text unter Pseudonym veröffentlicht.
Redaktionsnotiz: Der Text ist auf Bitte der Autorin unter einem Pseudonym veröffentlicht worden. Die Autorin hat substantiiert dargelegt, dass ihr bei Veröffentlichung unter Klarnamen ein erheblicher beruflicher Nachteil droht. Der kursive Zusatz am Ende des Textes stammt von der Autorin.
In einer früheren Version dieses Textes hieß es, dass Slavoj Zizek auf der Frankfurter Buchmesse des Antisemitismus bezichtigt wurde. Richtig ist, dass Slavoj Zizek vorgeworfen wurde, den Terror der Hamas zu relativieren. Der Text wurde entsprechend korrigiert.
Zusätzliche Redaktionsnotiz, 12.12.: Uns haben Zuschriften erreicht, wonach die Formulierung „Diskursverengung“ im Kontext von Israelkritik und Antisemitismus teilweise seinerseits als Anspielung auf antisemitische Verschwörungsmythen verstanden wird. Das war selbstverständlich nicht gemeint, aber wir können nachvollziehen, dass die Formulierung diesen Eindruck erwecken kann. Das tut uns sehr leid.
Zusätzliche Redaktionsnotiz, 15.12.: Eine frühere Version dieses Textes schrieb Felix Klein zu, Greta Thunbergs „Kritik an Israel durch die Begriffe ,Genozid‘ und ,Apartheidsstaat‘ als ,in unerträglicher Form antisemitisch‘ kritisiert“ zu haben. Laut verlinkter Quelle bezieht sich dieses Zitat auf Äußerungen „aus dem Kreis Thunbergs“, nicht notwendig auf solche von ihr selbst. Wir bitten diesen Fehler zu entschuldigen.