Europa hat generell keine so dolle Presse im Moment, und auch der Europäischen Menschenrechtskonvention und ihrem Straßburger Gerichtshof bläst seit einiger Zeit der Wind des wiedererstehenden Nationalismus mächtig ins Gesicht.
Um so erfrischender bzw. (je nach Perspektive) erstaunlicher war es, gestern dem amerikanischen Politologen, Europaspezialisten und Verfassungsvergleicher Alec Stone Sweet aus Yale zu lauschen. Dieser stellte im Wissenschaftskolleg vor dem Berliner Seminar von „Recht im Kontext“ einen Aufsatzentwurf zur EMRK als „kosmopolitischer Rechtsordnung“ zur Diskussion. Und aus Stone Sweets amerikanisch-politologischer Außenperspektive scheint kaum ein Wölkchen den Straßburger Horizont zu beschatten: Jedenfalls gilt sein wissenschaftliches Interesse weit mehr der Erfolgsstory als der potenziellen Misserfolgsstory des EGMR, welchen er nicht zögert,
the single most active and important right-protecting body of the world
zu nennen.
Verfassungspluralismus
Sein Argument geht (in meinen Worten zusammengefasst) so: Alle 47 Mitgliedsstaaten haben die EMRK in ihr nationales Rechtssystem inkorporiert. Somit sind alle nationalen Behörden, Gerichte usw. den europäischen Menschenrechten verpflichtet, und jeder, der sich in ihnen verletzt fühlt, kann vor nationalen Gerichten klagen. Dabei existiert die EMRK aber als eigene Rechtsordnung, die vom EGMR überwacht und ausgestaltet wird. Sie steht neben den jeweiligen nationalen Verfassungen, ohne dass es eine klare Hierarchie zwischen beiden gäbe.
Dieser „Verfassungspluralismus“ schlägt auf die nationale Ebene durch, in die Staaten selbst: Dadurch, dass alle 47 die EMRK zu national gültigem Recht erklärten, verändert sich auch das jeweilige nationale Verfassungsrecht fundamental. In Staaten, die bisher keinen Grundrechtekatalog hatten (Belgien, Frankreich, UK, Holland, Schweiz, Skandinavien), gibt es fürderhin einen – entweder direkt die EMRK oder ein ihr nachgebildetes nationales Gesetz.
Andere erheben die EMRK direkt in Verfassungsrang (z.B. Österreich). In Holland steht die EMRK sogar über der Verfassung. Und die Belgier treiben den Verfassungspluralismus insofern ins Extrem, als dort das Verfassungsgericht und der Oberste Gerichtshof miteinander in Streit liegen, ob Verfassungsrecht oder EMRK höherrangig sind (Verfassungsgericht sagt Verfassung, OGH sagt EMRK – gesunder Machterhaltungstrieb auf beiden Seiten, würde ich sagen).
Oder das Beispiel Spanien: Der spanische Tribunal Constitucional erklärt spanische Gesetze, die der EMRK zuwider laufen, für verfassungswidrig. Wenn ein spanisches Gericht die EMRK oder die Rechtsprechung des EGMR missachtet, dann verletzt das die spanische Verfassung (in die Richtung ging ja auch Görgülü aus Karlsruhe).
Diese Situation des Verfassungspluralismus vergrößert zunächst die Spielräume der jeweiligen nationalen Justiz enorm: Sie haben viel mehr Optionen, sich das Recht zusammenzusuchen, das sie für ihren Fall für passend halten. Und sie können faktisch Gesetze, die sie für menschenrechtswidrig halten, ignorieren (Ausnahme UK und Irland), ohne dass ihnen das Prinzip der Volks- bzw. Parlamentssouveränität dabei in die Quere kommt: Judicial Review setzt sich flächendeckend durch.
Kosmopolitische Rechtsordnung
Auf dieser Grundlage, so Stone Sweet, ist die EMRK zu einer „kosmopolitischen Rechtsordnung“ geworden, überwacht und ausgestaltet vom EGMR, der das Schutzniveau der Menschenrechte stetig wachsen und den Spielraum der Mitgliedsstaaten stetig schrumpfen lässt. Diese können dagegen kaum etwas tun, zumal ihre eigenen Gerichte im Zweifel auf der Seite des EGMR stehen dürften.
Welchen Druck die Aussicht, permanent vom EGMR verurteilt zu werden, politisch entfalten kann, haben wir hierzulande gerade erst beim Thema Sicherungsverwahrung gespürt. Welche Wirkungen dieser Druck in Ländern mit schwächerer Rechtsschutztradition hatte und hat, kann man sich vorstellen.
Besonders groß ist die Wirkung des EGMR dort, wo es um Nicht-Staatsbürger geht, um Menschen, die auf nationaler Ebene nicht den gleichen Schutz genießen wie die Ansässigen: Von Abschiebung bedrohte Ausländer beispielsweise, aber auch Menschen, deren Rechte außerhalb des territorialen Geltungsbereichs der EMRK durch das Handeln der Mitgliedsstaaten bedroht sind – Irakern beispielsweise, die von britischen Soldaten misshandelt werden. Dass der EGMR die Konvention im Fall Al-Skeini auch im Zweistromland durchzusetzen bereit ist, zeigt das enorme Selbstbewusstsein dieser Institution.
In der Diskussion kam dann schon heraus, dass Stone Sweet nicht blauäugig ist, was die offenkundigen Probleme des EGMR betrifft: Überlastung, inkohärente Rechtsprechung, aber auch die Frage, wie es eigentlich um die Legitimationsbasis der Richter, Recht zu gestalten, bestellt ist – das ist ihm alles wohl bekannt. Aber, so seine Verteidigung, er sei eben als Politikwissenschaftler viel empirischer orientiert als die normativ denkenden Juristen – sein Thema sei nicht, ob das toll sei mit der kosmopolitischen Rechtsordnung, sondern dass es sie gibt und warum und unter welchen Enstehungsbedingungen.
Ob die EMRK als kosmopolitische Rechtsordnung auf Dauer überleben werde, hält er denn auch keineswegs für ausgemacht. Das gelte aber nicht für den Verfassungspluralismus: Die Zeiten einer hierarchisch strukturierten, einheitlichen Verfassungsordnung mit dem „letzten Wort“ eines Verfassungsgerichts an der Spitze, die seien vorbei. Als Beispiel nannte Stone Sweet das Zusammenwirken der deutschen Arbeitsgerichte mit dem EuGH in Sachen Antidiskriminierung – ein Vorgang grundrechtlicher Verfassungsgestaltung, der am BVerfG komplett vorbeilief. In Stone Sweets Worten:
Constitutional pluralism will not go away.
Foto: Stephen Colebourne, Flickr Creative Commons
