Dass die Briten ihre Schwierigkeiten mit der Europäischen Menschenrechtskonvention haben, ist seit langem bekannt: Immer noch würgt das britische Parlament an der Kröte, die ihr der EGMR im Fall Hirst zu schlucken gegeben hat – jenem in UK heftigst umstrittenen Urteil, wonach die britischen Strafgefangenen nicht pauschal von der demokratischen Teilhabe ausgeschlossen werden dürfen.
Großbritannien hat keine Verfassung und kein Verfassungsgericht. Sein Parlament ist souverän, und was es an Recht beschließt, ist keinem höherrangigen Recht mehr unterworfen. Zwar gibt es seit einigen Jahren den Human Rights Act, der die EMRK in britisches Recht transformiert. Aber wenn ein Gericht zu dem Schluss kommt, ein Gesetz verstoße gegen denselben, dann darf es diesen Verstoß nur feststellen, nicht aber das Gesetz unangewendet lassen oder gar für nichtig erklären. Es ist Sache des Parlaments, dem Verstoß dann durch Änderung des Rechts abzuhelfen.
Wozu es aber aus politischen Gründen überhaupt nicht notwendigerweise aufgelegt ist. Im Fall Hirst mag dazukommen, dass sich Westminster von den Frogs aus Straßburg schon überhaupt nichts sagen zu lassen gewillt ist. Aber jedenfalls belegt der Fall, dass das Parlament einen gerichtlich festgestellten Menschenrechtsverstoß schon auch mal einfach so in der Landschaft stehen lässt.
Jetzt hat sich die Supreme-Court-Richterin Brenda Hale, Baroness Hale of Richmond, sehr interessant und outspoken zu Wort gemeldet, und zwar mit einem halb flehenden, halb drohenden Appell an den EGMR, es nicht zu weit zu treiben mit der Rechtsfortbildung: Wenn man die EMRK schon als „living instrument“ behandle, dann doch bitte nicht im Sinn einer Bohnenstange, die in den Himmel wächst und irgendwann knickt, sondern in dem eines Baumes, fest verwurzelt und stark, aber im Wachstum an natürliche Grenzen stoßend:
As a supporter of the Convention and the work of the Strasbourg Court, my plea to them is to accept that there are some natural limits to the growth and development of the living tree. Otherwise I have a fear that their judgments, and those of the national courts which follow them, will increasingly be defied by our governments and Parliaments. This is a very rare phenomenon at present and long may it remain so.
Der Plural „governments and Parliaments“ scheint mir im Moment noch übertrieben, und die Großschreibung bei „Parliament“ verräterisch: Der Clash zwischen Parlamentssouveränität und EGMR-Rechtsprechung ist fürs Erste ein britisches Problem, kein europäisches.
Allerdings kann es eins werden: Wenn die Briten tatsächlich damit davonkommen, über Jahre ein EGMR-Urteil einfach zu ignorieren, wer will dann noch den Russen böse sein, wenn sie das Gleiche tun?
Außerdem ist parlamentarische Defiance gegenüber verfassungsrichterlichen Interventionen auch auf dem Kontinent ein beunruhigend häufiges Phänomen. Wobei ich nicht den Eindruck habe, dass der allzu kreative Umgang der Richter mit den jeweiligen verfassungsrechtlichen Grundlagen sich als Ursache hierfür aufdrängt.
Update: Mehr zum Thema hier.
Via UK Human Rights Blog und ECHR Blog.
Foto: Oliver Mallich, Flickr Creative Commons
