4. Dezember 2012

Maximilian Steinbeis

Dauerobservation von Ex-Sicherungsverwahrten: Einstweilig zulässig

Einen entlassenen Sicherungsverwahrten dauerhaft und auf Schritt und Tritt unter Beobachtung zu stellen, ist… zulässig? Nicht zulässig? Kommt drauf an? Die Rechtslage ist schwierig, und die heutige Kammerentscheidung aus Karlsruhe trägt nicht dazu bei, sie zu entkomplizieren.

Es geht um einen jener Fälle, in denen ein Sexualstraftäter infolge der EGMR-Rechtsprechung zur Sicherungsverwahrung auf freien Fuß gesetzt wurde, obwohl die Polizei davon ausging, dass er weiterhin gefährlich ist. Um die Bevölkerung zu schützen, steht permanent ein Polizeiauto mit drei Beamten im Hof vor seinem Haus, zwei weitere sitzen in der Küche seiner Unterkunft. Wo immer er hingeht, die Polizei geht mit. Wenn er eine Frau anspricht, wird sie sofort gewarnt.

Der Mann versuchte, gegen die Dauerobservation eine einstweilige Anordnung zu erwirken, bekam aber keine, und dagegen erhob er Verfassungsbeschwerde. Und bekam Recht. Aber wogegen?

Zunächst stellt die 1. Kammer des Ersten Senats wie auch zuvor schon die Verwaltungsgerichtsbarkeit fest, dass es sich um einen schwerwiegenden Eingriff in die Privatsphäre handelt, wenn einem „durch die fast lückenlose Präsenz der ihn außerhalb seines Zimmers überwachenden Polizisten die Möglichkeit, ein selbstbestimmtes, eigenverantwortliches Leben zu führen, weitgehend genommen“ wird.

Dann findet die Kammer eine Menge guter Gründe, warum ein solcher Eingriff eigentlich einer speziellen, darauf zugeschnittenen Rechtsgrundlage im Polizeirecht bedürfte. Langfristige Observation ist in § 22 PolG BW zwar erlaubt, aber zum Zweck der Datenerhebung, worum es hier überhaupt nicht ging. Ob die allgemeine Generalklauselbefugnis, die nötigen Maßnahmen zur Gefahrenabwehr zu ergreifen (§ 3, 1 PolG BW), ausreicht, hält die Kammer „erst recht“ für „fraglich“, wenn damit eine jahrelang andauernde Überwachung gerechtfertigt werden soll:

Vielmehr handelt es sich wohl um eine neue Form einer polizeilichen Maßnahme, die bisher vom Landesgesetzgeber nicht eigens erfasst worden ist und aufgrund ihrer weitreichenden Folgen möglicherweise einer ausdrücklichen, detaillierten Ermächtigungsgrundlage bedarf.

Wohl? Möglicherweise? Eigentlich ist es der Job von Karlsruhe, diese Konjunktive in den Indikativ zu überführen, sollte man meinen. Das tut die Kammer aber nicht, sondern folgt dem VGH Mannheim in seiner Überlegung, dass man im einstweiligen Rechtsschutz da mehr Spielraum lassen muss als im Hauptsacheverfahren, um dem Gesetzgeber Gelegenheit zu geben, die Befugnislücke im Polizeirecht zu stopfen:

Der Sache nach verstehen sie damit die polizeiliche Generalklausel dahingehend, dass sie es den Behörden ermöglicht, auf unvorhergesehene Gefahrensituationen auch mit im Grunde genommen näher regelungsbedürftigen Maßnahmen vorläufig zu reagieren, und ermöglichen so dem Gesetzgeber, eventuelle Regelungslücken zu schließen. Dies ist – bei Beachtung strenger Verhältnismäßigkeitsanforderungen – verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Es liegt dann in der Verantwortung des Gesetzgebers hierauf zu reagieren oder in Kauf zu nehmen, dass solche Maßnahmen von den Gerichten auf Dauer als von der geltenden Rechtslage nicht als gedeckt angesehen werden.

Vielleicht liegt es daran, dass Polizeirecht noch nie mein strong suit war, aber das will mir nicht recht in den Kopf: Wieso hängt denn die Notwendigkeit einer speziellen Befugnisnorm von der Art des Verfahrens ab, in dem sie geprüft wird? Wie kann ein und die selbe Maßnahme im einstweiligen Verfahren eine korrekte Rechtsgrundlage haben und im Hauptsacheverfahren nicht? Seit wann ist das einstweilige Verfahren dazu da, gleichsam rechtspolitische Warnsignale und Reaktionsspielräume für den Gesetzgeber zu erzeugen? Mir scheint da mal wieder das alte Lateinersprichwort am Platze: Quod licet Karlsruhae, non licet Examensklausurencandidati.

Am Ende kommt es darauf aber gar nicht an, weil die Urteile der baden-württembergischen Verwaltungsgerichte aus einem ganz anderen Grund aufgehoben werden: Sie haben sich auf veraltete Gutachten gestützt.

So bekommen alle, was sie brauchen: Der Grundrechtsträger sein einstweiliges Rechtsschutzverfahren, der Landesgesetzgeber einen zarten Hinweis, mal besser schnell das Polizeirecht anzupassen, und Karlsruhe bleibt erspart, daran schuld zu sein, dass womöglich ein Vergewaltiger unüberwacht herumläuft.

Nur ich bin ein bisschen verwirrt, aber was macht das schon.

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