5. April 2019

Anna Lübbe

Der EuGH eröffnet (unbeabsichtigt) neue Wege für „free choice“ im Asylrecht

Die unendliche Geschichte der Klärung der Voraussetzungen, unter denen Asylsuchende Dublin-überstellt werden dürfen, hat mit dem EuGH-Urteil H & R vom 2. April eine Wendung genommen, die wieder einigen Anschlussklärungsbedarf nach sich ziehen wird. Der EuGH hat entschieden, dass ein Zweitantragsstaat im Rahmen des Wiederaufnahmeverfahrens (grundsätzlich) die Zuständigkeit für die Durchführung des Asylverfahrens nicht zu prüfen habe. Es sei der Erstantragsstaat, der das Zuständigkeitsbestimmungsverfahren durchzuführen und im Fall einer Weiterwanderung nach der Rückführung des Betroffenen fortzusetzen habe. Es sei denn, er hatte das Zuständigkeitsbestimmungsverfahren bereits beendet und sich für zuständig erklärt. Dann stehe einer erneuten Prüfung der Zuständigkeitsfrage im Zweitantragsstaat der effet utile des Dublin-Systems entgegen. Die Auslegung war wesentlich durch das Ziel motiviert, das Dublin-System effizient zu halten, bzw. effizient zu machen, und den Aufwand des Umgangs mit Weiterwanderungen zu senken. Ist das gelungen?

Der EuGH bemerkt selbst, dass das Bemühen um Allokationseffizienz hier, wieder einmal, mit der (vorrangigen) Notwendigkeit kollidieren könnte, die praktische Wirksamkeit auch des Primärrechts sicherzustellen, insbesondere der Grundrechtecharta. Würde in Wiederaufnahmeverfahren generell keine Zuständigkeitsprüfung durchgeführt, könnten die Betroffenen insbesondere nicht mehr geltend machen, der Zweitantragsstaat sei selbst der für sie zuständige Staat. Und im Ersteintrittsstaat wird bis zur Rückführung des Betroffenen und Beendigung der Zuständigkeitsprüfung die Frist für die Einleitung eines (weiteren) Transferverfahrens in den „richtigen“ Staat meist abgelaufen sein.

Nun ist die endgültige Zuordnung eines Asylsuchenden an einen nach Maßgabe der Dublin-Kriterien unzuständigen Staat nicht immer auch ein grundrechtliches Problem. Der Sinn des ganzen Systems war ja auch eigentlich nicht, Asylsuchende unbedingt stets dem „richtigen“ Staat zuzuordnen, sondern sich möglichst effizient auf eine eindeutige Zuordnung zu verständigen (eine Differenzierung, die unter der jüngeren Rechtsprechung des EuGH zur Klagbarkeit der „richtigen“ Zuordnung verloren ging). Der EuGH scheint nun zu bemerken, dass die Sache doch recht kompliziert wird, wenn die Asylsuchenden bei all den Transfers, die im Zuge von oft mehrfachen Weiterwanderungen anfallen, stets eine weitere Zuordnungsprüfung und richtige Zuordnung einklagen dürfen, unabhängig davon, ob ihrem Zuordnungswunsch ein schutzwürdiges Zuordnungsinteresse, im Unterschied zu einem Mitnahmeeffekt, zugrunde liegt.

Nicht selten liegt dem Wunsch der Zuordnung an den „richtigen“ Staat allerdings durchaus ein schutzwürdiges Interesse zugrunde, insbesondere dann, wenn die betreffende Zuordnungsbestimmung Grundrechte realisieren soll. Der EuGH benennt in der Entscheidung Art. 7 und Art. 24 GRCh als durch unrichtige Zuordnungen verletzbare Kandidaten; das betrifft alle Kriterien, die dem Schutz von Minderjährigen, Familien (und Abhängigen) dienen. Als weiterer überstellungsrelevanter Kandidat liegt Art. 4 GRCh auf der Hand, dessen Erfordernisse in zielstaatsbezogenen Fällen über Art. 3 II 2 VO Dublin III zu realisieren sind, ansonsten notfalls auch über Art. 17 VO Dublin III (sub III.2 und V.). Es geht hier nicht um eine abschließende Aufzählung der möglichen Grundrechtsprobleme bei Dublin-Transfers, erwähnt sei aber jedenfalls noch Art. 18 GRCh mit seiner Verpflichtung auf die Genfer Flüchtlingskonvention: Im Hinblick auf die internationale Diskussion zu den flüchtlingsrechtlichen Anforderungen an sichere-Drittstaaten-Transfers verbergen sich dort noch allerlei Fragen, denen das Europäische Asylsystem sich wird stellen müssen (verpasst in EuGH Ibrahim (Rn. 100), zur Problematik hier).

In den Ausgangsfällen der vorliegenden EuGH-Entscheidung hatten die Betroffenen in den Wiederaufnahmeverfahren jeweils die Zuständigkeit des Zweitantragsstaates aus familiären Gründen geltend gemacht. Mangels Bereitschaft des Zweitantragsstaates, in die Zuständigkeitsprüfung einzusteigen, drohte eine endgültige Zuordnung an den Erstantragsstaat entgegen Art. 9 VO Dublin III. Der EuGH löst das Problem so, dass der Zweitantragsstaat dieses der Familieneinheit dienende Kriterium dann trotz Wiederaufnahmeverfahren doch zu prüfen und sich ggf. selbst für zuständig zu erklären habe. Aber nur, wenn das Problem vom Betroffenen so vorgebracht werde, dass die drohende Fehlzuordnung offensichtlich sei.

Nur für Leser*innen, die an kohärenten rechtlichen Begründungen interessiert sind, und außerdem nicht bereit, den effet utile des Grundrechtsschutzes dem des Sekundärrechts unterzuordnen: Wirft das nicht Fragen auf? Schützen wir Grundrechte nur noch, wenn sie offensichtlich verletzt werden? Genügt es nicht, dass der überstellende Staat eines verletzt, und müsste ein diesbezüglicher arguable claim nicht wie sonst auch geprüft werden? Und wäre ferner der Umstand, dass der EuGH sofort ein „Loch“ in seine gerade entwickelte Auslegung machen musste, damit sie primärrechtskonform bleibt, und dass man wegen der o.g. weiteren zu schützenden Rechte mit weiteren Löchern rechnen muss – wäre das nicht Anlass gewesen, eine Auslegung, die einen solchen Schweizer Käse produziert, nochmals in Frage zu stellen? Also nochmals in die Auslegung einzusteigen, mit der der EuGH seine Argumentation begonnen hatte (und dann vielleicht auch Art. 7 III und 17 VO Dublin III einzubeziehen)?

Ich will das hier nicht versuchen, sondern nur anmerken, dass der Versuch, ein kohärentes, auch primärrechtlich eingehend reflektiertes Auslegungsergebnis zu erzielen, statt in eine zunächst einseitig an der Allokationseffizienz orientierte Auslegung anschließend grundrechtehalber einige Ausnahmen hineinzubrechen, meinem Verständnis von primärrechtskonformer Norminterpretation näherkäme. Ohne zu verkennen, dass das auf transnationaler Ebene aus mancherlei Gründen schwieriger ist. Bei solchen dogmatischen Bemühungen würde sehr viel schneller als bei einer unendlichen Reihe von ad hoc-Lösungen deutlich, wo das Problem eigentlich liegt: In der unvermeidlichen Komplexität und den unvermeidlichen Kollisionen des Effizienzziels mit dem Menschen- und Flüchtlingsrechtsschutz in Zwangsallokationssystemen, an denen Staaten mit stark unterschiedlichen Standards und Lebenschancen beteiligt sind. Wenn man bei der Zwangsallokation bleiben und sich dabei nicht wenigstens so weit wie unter Lastenteilungsgesichtspunkten vertretbar um interessengerechte Zuordnungen bemühen will, muss man schließlich Farbe bekennen: Wählt man Allokationseffizienz oder wählt man Menschen- und Flüchtlingsrechtsschutz? Die Antwort des Primärrechts, wie solche Kollisionen zu lösen sind, ist eindeutig. Die des EuGH nicht immer.

Ist das System denn nun mit der vom EuGH gewählten Lösung wenigstens effizienter geworden? Weiterwanderungsbereite Asylsuchende, die einen Zielstaat im Auge haben, der nach den Dublin-Kriterien nicht für sie zuständig ist, dürfen sich freuen. Sie können versuchen, ihren Erstantrag möglichst in genau diesem Staat zu stellen, und anschließend einmalig weiterwandern und andernorts einen Zweitantrag stellen. Der Zweitantragsstaat muss ein Wiederaufnahmeverfahren einleiten, mit dem die Betroffenen sich ohne Zuständigkeitsprüfung in den Erstantragsstaat zurückführen lassen können, also in ihren (unzuständigen) Wunschasylstaat. Von da aus geht es dann der zumeist abgelaufenen Frist halber nicht mehr weiter. Man kann vermuten, dass das kein Ergebnis ist, welches der EuGH erzielen wollte. Eine über den Einzelfall hinausdenkende Interpretation von Rechtsnormen bezöge Realfolgen – auch durch unintendierte Verhaltensänderungen der Rechtsbetroffenen entstehende Realitäten – verschiedener Auslegungsvarianten mit ein. Versteht man allerdings das Dublin-System als ein System, das (außerhalb grundrechtlich gebotener Zuordnungen) gar nicht unbedingt den „richtigen“ Dublin-Staat verantwortlich machen, sondern rasch Zuständigkeitsklarheit herstellen will – dann ist ein Wunschasylstaat-Ergebnis doch besser als eines, das Anlass für mehrfache Weiterwanderungen bietet.

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