Stellen wir uns vor, dass die Europäischen Regierungschefs im Juli nicht Juncker oder Schulz, sondern eine dritte Person – z.B. die IWF-Präsidentin Christine Lagarde– zum Kommissionspräsidenten vorschlagen. Der Europäische Rat schnürt ein komplexes Personalpaket, verweist auf die mangelnde Unterstützung Junckers bei einigen Regierungschefs, auf die prekäre Situation, in der sich der Britische Premier nach den desaströsen Abschneiden der konservativen Partei und dem Triumph der euroskeptischen UKIP befindet, und den hilfreichen Bonus, den es für den von dem Wahlerfolg der Front Nationale gebeutelten Französischen Präsidenten bedeutet, einen französischen Kandidaten durchzusetzen.
Stellen wir uns weiterhin vor, daß das Europäische Parlament zwar Respekt für die Kandidatin äußert, aber eine stabile Mehrheit sich weigert eine Person zu ernennen, die nicht vorher als Spitzenkandidat im Wahlkampf aufgetreten ist. Sie argumentiert, dass man den Wählern im Wahlkampf ein Versprechen gegeben habe, nur einen der Spitzenkandidaten zu ernennen. Das Parlament tue alles um den Bürgern auch in der Zukunft deutlich zu machen, dass sie gute Gründe haben, sich für die Europäischen Parlamentswahlen und die Spitzenkandidaten der Partei zu interessieren. Das schuldeten sie der Demokratie in Europa.
Das hier beschriebene, nicht vollkommen unwahrscheinliche Szenario lässt sich einerseits als Machtkampf zwischen dem Europäischen Parlament und der im Europäischen Rat vereinigten Chefs der nationalen Exekutiven beschreiben. Als Machtkampf hat er erhebliche verfassungspolitische Bedeutung. Läßt sich bezweifeln, daß das Mächtegleichgewicht zwischen Rat und Parlament sich mittelfristig erheblich zugunsten des Parlaments verschieben würde, wenn es in europäischen Wahlen tatsächlich um die Selektion des europäischen Führungspersonals ginge? Läßt sich bezweifeln, dass der Ausgang dieses Machtkampfs maßgeblichen Einfluss darauf haben wird, wie Europäische Parteien und Bürger das nächste Mal europäische Parlamentswahlen wahrnehmen werden? Und weil die Spitzenkandidaten hoch gepokert hatten mit ihrem Versprechen im Wahlkampf, wären die Kosten einer Niederlage ebenfalls hoch. Jedes Vertrauen wäre unterminiert und die Europawahlen drohten vollends in die Bedeutungslosigkeit abrutschen, ein Fest nur für Euroskeptiker und politisch müde Zyniker. Aber wenn das Parlament einen Spitzenkandidaten durchsetzen wird, zweifelt irgendjemand daran, dass bei der nächsten Europawahl der Prozess der Aufstellung der Spitzenkandidaten, der Wahlkampf und die Aufmerksamkeit der Bürger eine ganz andere würde? Und dass der von den Regierungen gesteuerten Exekutivföderalismus erheblich zurückgeschnitten würde? In diesem Machtkampf geht es um die demokratische Gestalt der Zukunft Europas.
Aber wie ist ein solcher Machtkampf rechtlich zu beurteilen? Bietet das Recht hier irgendwelche verbindliche Koordinaten, oder ist allein die Taktik und Strategie der politischen Akteure, ergänzt durch den Druck einer mobilisierbaren politischen Öffentlichkeit, maßgeblich? Hier ist eine europarechtliche und eine national- verfassungsrechtliche Seite zu unterscheiden.
Zunächst zur europarechtlichen Seite: Als die Bundeskanzlerin nach dem EU-Gipfel am 27. Mai, nachdem sich in einem Votum des Europaparlaments sich eine große Mehrheit für Juncker ausgesprochen hatte, eher ambivalent über Junckers Aussichten äußerte, rechtfertigte sie ihre Position unter anderem mit Hinweis auf die Europäischen Verträge: Es gäbe eben keinen Automatismus. Alle sollten sich schön an die Verträge halten. Wir wüssten ja, welche Probleme entstünden , wenn sich maßgebliche Akteure nicht an das Recht hielten (sie meinte vermutlich den Stabilitäts-und Währungspakt, gegen dessen Vorschriften auch Deutschland 2005 verstieß und dann eine Führungsrolle einnahm, den Vertrag erfolgreich aufzuweichen). Aber natürlich handelt das Parlament nicht illegal, sondern im Rahmen seiner Kompetenzen, wenn es politisch darauf insistiert, daß nur Juncker die zur Wahl erforderliche Mehrheit erhalten wird. Es steht dem Europäischen Parlament frei, den vom Europäischen Rat vorgeschlagenen Kandidaten abzulehnen.
Aber steht es auch dem Europäischen Rat frei, sich zu weigern einen Kandidaten aufzustellen, für den sich das Parlament nach den Wahlen schon mit entsprechender Mehrheit ausgesprochen hat? Nach Art. 17 Abs. 7 §1 ist der Rat verpflichtet, das Ergebnis der Wahlen zu berücksichtigen. Wann wäre eine solche Pflicht verletzt?
Jedenfalls dann, wenn der Rat schon vor den Wahlen verkünden würde, dass er ohne Rücksicht auf den Ausgang der Wahlen ihren favorisierten Kandidaten als Kommissionspräsidenten vorschlagen würden. Sicherlich nicht schon dann, wenn der Rat sich weigert, den Spitzenkandidaten der relativ stärksten Partei im Parlament zu ernennen. Immerhin ist denkbar, dass ein Spitzenkandidat einer anderen Partei (kontrafaktisch z.B. Schulz) die Unterstützung einer absolute Mehrheit durch Koalitionsbildung organisieren kann. Der Rat ist ganz bestimmt nicht verpflichtet, den Willen der Mehrheit des Parlaments zu ignorieren und in einem solchen Fall den Kandidaten der relativ stärksten Partei zu wählen. Ebenfalls ist denkbar, dass das Parlament nach den Wahlen zerstritten und uneinig ist. Hier kann durch den Vorschlag des Rates unter Umständen maßgeblich die Koalitionsbildung beeinflusst werden. Insoweit stimmt der Satz der Kanzlerin: Es gibt keinen Automatismus, und es gibt eine eigenständige politische Rolle des Europäischen Rates.
Was aber, wenn das Parlament sich nach den Wahlen mit klarer Mehrheit hinter einen Kandidaten stellt, der für seine Partei als Spitzenkandidat Wahlkampf betrieben hat? Was bedeutet es in einer solchen Konstellation „das Ergebnis der Wahl zu berücksichtigen“? Das Ergebnis der Wahlen ist in einem solchen Fall, dass gerade dieser Kandidat und kein anderer die relevante Mehrheit im Parlament hinter sich hat. In einer solchen Konstellation konkretisiert sich die Pflicht zur Berücksichtigung des Wahlergebnisses zu einer Pflicht, den Spitzenkandidaten vorzuschlagen, der die Mehrheit im Parlament hinter sich hat. Konkret: Der Europäische Rat ist verpflichtet, Juncker vorzuschlagen.
Diese Interpretation ist nicht nur vom Wortlaut des Art. 17 Abs, 7 § 1 her naheliegend. Sie wird auch durch eine systematische Interpretation des EU-Vertrages gestützt. Im Titel II des EUV in den Bestimmungen über die demokratischen Grundsätze der Union steht, dass die Arbeitsweise der Union auf der repräsentativen Demokratie beruht. Dabei wird, demokratietheoretisch durchaus konventionell, in Art. 10 Abs. 2 EUV als erstes die Rolle des Europäischen Parlaments hervorgehoben, bevor auf die Rolle des Europäischen Rates eingegangen wird. Diese Priorisierung des Parlaments in dem Verständnis repräsentativer Demokratie in Europa ist auch eine angemessene Interpretation des europäischen Bekenntnis zur Demokratie als eines der in Art. 2 EUV genannten Grundwerte der Union. Diese Priorisierung sollte nicht durch die im Übrigen natürlich richtige Beobachtung relativiert werden, dass in der Europäischen Union demokratische Legitimation eben sowohl über das Parlament als auch über die Mitliedstaaten vermittelt wird. Der Europäische Rat hat auch bei der Bestimmung des Kommissionspräsidenten grundsätzlich eine Rolle zu spielen. In der genannten Konstellation – wenn es eine eindeutige parlamentarische Mehrheit für einen Spitzenkandidaten gibt – aber eben nur eine formelle.
Unabhängig von der europarechtlichen Würdigung des Sachverhalts gibt es auch plausible grundgesetzlich-verfassungsrechtliche Argumente dafür, dass jedenfalls die deutsche Bundeskanzlerin verpflichtet ist, auf die Ernennung von Juncker hinzuwirken. Auch wenn das Bundesverfassungsgericht bislang in seiner Rechtsprechung den Europaartikel des Art. 23 GG sträflich vernachlässigt hat und sich in seiner demokratietheoretisch ummantelten, souveränitäts-, staats-und identitätsorientierten Europarechtsprechung in eine Ecke manövriert hat, bestimmt Art. 23 Abs. 1 explizit, dass die Bundesrepublik Deutschland zur Verwirklichung eines vereinten Europas mitwirkt, dass dem Demokratieprinzip verpflichtet ist. Hier muss es ausreichen die Frage als „open question argument“ zu formulieren: Wirkt die Bundeskanzlerin bei der Verwirklichung eines dem Demokratieprinzip genügenden Europa mit, wenn sie in Folge europäischer Wahlen bei dem gegenwärtigen Stand der Integration sich weigern würde, den Kandidaten für das Amt des Kommissionspräsident zu unterstützen, der als Spitzenkandidat der stärksten Partei die Mehrheit des Europäischen Parlaments hinter sich hat? Das grundgesetzliche europarechtliche Demokratiegebot ist schwer mit einem regierungsgeleiteten kollektiven Exekutivföderalismus vereinbar. Nationale Parlamente sind strukturell ungeeignet, Regierungen im Kontext intergouvernmentalen Handelns effektiv zu kontrollieren, auch wenn es hier vielversprechende Ansätze gibt, die nationale parlamentarische Kontrolle wenigstens nicht vollkommen leerlaufen zu lassen.
Die Geschichte des demokratischen Konstitutionalismus ist über weite Strecken hinweg ein Ringen des Parlaments gegen eine übermächtige Exekutive und Bürokratie. Dieser Kampf findet heute auf europäischer Ebene, auf der sich die nationalen Regierungen von effektiver demokratischer Kontrolle weitgehend lösen können, seine Fortsetzung. Die revidierte Position Merkels vom 30. Mai „jetzt alle Gespräche genau in diesem Geiste (zu führen), dass Jean-Claude Juncker auch Präsident der Europäischen Kommission werden sollte“ ist nicht nur politisch angemessen, sondern europarechtlich und verfassungsrechtlich geboten. Europäische Bürger sollten wachsam sein, damit sie auch zielführend praktisch vollzogen wird.