5. November 2012

Carl Otto Lenz

Der europäische Bundesstaat: Das Grundgesetz hätte nichts dagegen

Seit dem Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist die Vorstellung in der Welt, dass das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland verbiete, in einen europäischen Bundesstaat einzutreten. Wer das glaubt, muss aber die Frage beantworten, wie sich diese Überzeugung mit der Präambel des Grundgesetzes verträgt. Und die Antwort kann eigentlich nur eine sein: überhaupt nicht.

1. “Die Präambel charakterisiert das Wesen des Grundgesetzes”, sagte Carlo Schmid, Generalbericht in der Zweiten Sitzung des Plenums des Parlamentarischen Rates am 8. September 1948. Das heißt: Das ganze GG ist vom Geist der Präambel durchdrungen und muss entsprechend ausgelegt werden.

Die Präambel sieht vor, dass Deutschland ein “gleichberechtigtes Glied eines vereinten Europa” zu sein hat. Der Begriff “Glied” oder “Gliedstaat” war zur Zeit der Entstehung des Grundgesetzes eine häufige Bezeichnung für das Verhältnis der Länder zu dem zu schaffenden oder gerade gegründeten deutschen Gesamtstaat, bezeichnete also eine besonders enge staatsrechtliche Beziehung (siehe Art. 50 der Verfassung des Landes Baden; Art. 23 der Verfassung von Baden-Württemberg von 1950; Art.64 der Verf. von Bremen von 1947; Art. 64 der Verf. v. Hessen v. 1946, “Glied der deutschen Republik und Europas”; Art. 1 d. Verf. v. NRW v. 1950; Art. 74 d. Verf. v. Rheinland-Pfalz v.1947; Art. 1 d. Verf.   v. Schleswig-Holstein; Art. 43 d. Verf. v. Württemberg-Baden und Art. 1 d. Verf. v. Württemberg-Hohenzollern v.1947).

2. Zur Zeit der Beratung des GG wurden verschiedene Formen der Einigung Europas diskutiert, darunter die Gründung der Vereinigten Staaten von Europa. “Wir müssen so etwas wie die Vereinigten Staaten von Europa schaffen”, sagte Winston Churchill in seiner berühmten Züricher Rede am 19. September 1946. Die Idee stieß auf großen Widerhall (Hertensteiner Programm der europäischen Föderalisten, Sept. 1946; Erster Kongress der Union Europäischer Föderalisten, Montreux, 27.-31. Aug. 1947; Europäischer Kongress in Den Haag, 7.-10.Mai 1948, siehe Kurt Gasteyger, Einigung und Spaltung Europas, Fischer 1965, S. 35-49). Konrad Adenauer, der Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland, schrieb in seinen Erinnerungen: „Ich beschäftigte mich sehr mit dem Problem der Vereinigten Staaten von Europa, den Deutschland angehören musste. Ich sah in den künftigen Vereinigten Staaten von Europa die beste und dauerhafteste  Sicherung der westlichen Nachbarn Deutschlands.“ (Erinnerungen 1945-1953, S. 41).

Der Parlamentarische Rat, der das GG ausarbeitete und dessen Präsident Adenauer war, nahm in dieser Diskussion nicht Partei, sondern benutzte die offene Formulierung “vereintes Europa”, legte also die Bundesrepublik nicht fest, schloss aber auch keine der diskutierten Formen und schon gar nicht der die Vereinigten Staaten von Europa aus. Insofern kann man nicht sagen, was die Verfassungsschöpfer wollten, sei unklar. Sie wollten, dass das deutsche Volk als Glied in einem vereinten Europa lebe, sofern die Gleichberechtigung Deutschlands gewahrt war. Von einem Verbot, einem europäischen Bundesstaat beizutreten, kann keine Rede sein.

Im Augenblick steht ein solcher Schritt ohnehin nicht auf der Tagesordnung. Bei den im Zusammenhang mit der Schuldenkrise diskutierten Kompetenzübertragungen handelt es sich darum nicht, sondern um Übertragung begrenzter Einzelermächtigungen im Rahmen einer Union, aus der man austreten kann (Art. 50 EUV). Dass die Verfasser des GG für diese Ermächtigungen eine unübersteigbare Grenze für den verfassungsändernden Gesetzgeber ziehen wollten, dafür enthält das GG keine Anhaltspunkte. Sie bleiben weit hinter dem zurück, was unter der Herrschaft des GG schon beschlossen wurde, ohne dass hier verfassungsrechtliche Bedenken die Beschlussfassung verhinderten.

3. In den 50iger Jahren wurden Stahlindustrie und Kohlebergbau (beide damals unentbehrlich für den Wiederaufbau) sowie die Kernenergie unter europäische Kontrolle gestellt, ohne dass die Verfassungsmäßigkeit dieser Unterstellung in Zweifel gezogen wurde. Das gilt auch für die vom Bundestag gebilligte Unterstellung deutscher Streitkräfte und die Koordinierung der deutschen Außenpolitik in der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft und der Europäischen (politischen) Gemeinschaft, die zwar scheiterten, aber eben nicht an deutschen verfassungsrechtlichen Bedenken, obwohl eine konstitutive Zustimmung des Deutschen Bundestages zum Einsatz deutscher Soldaten nicht vorgesehen war. Das BVerfG geht darauf nicht ein.

4. An dieser Rechtslage hat sich auch nach der Wiedervereinigung nichts geändert. Die Formulierung “vereintes Europa” wurde auch bei den Grundgesetzänderungen nach der Wiedervereinigung beibehalten. Die Drei (West-)Mächte und die Bundesrepublik hatten sich nämlich verpflichtet, zusammenzuwirken, um “… ihr gemeinsames Ziel zu verwirklichen: Ein wiedervereinigtes Deutschland, das eine freiheitlich-demokratische Verfassung, ähnlich wie die Bundesrepublik, besitzt und das in die europäische Gemeinschaft integriert ist” (Art. 7 Abs. 2 Deutschlandvertrag, BGBl 1955 II S. 305). Die Beibehaltung des Begriffs “vereintes Europa” nimmt diesen Gedanken auf. Da die Schaffung der Währungsunion damals eine weitere Stufe im Prozess der europäischen Integration war, bestand auch ein rechtlicher Zusammenhang zwischen der Integrierung Deutschlands in die europäische Währungsunion und der Wiedervereinigung Deutschlands. Sie war der Beweis, dass auch das wiedervereinigte Deutschland „in die europäische Gemeinschaft integriert“ blieb und bleibt, oder, in der einprägsamen Formulierung von Helmut Kohl: “Die deutsche Einheit und die europäische Einigung sind zwei Seiten einer Medaille.”

Dies wurde bekräftigt, indem ein neuer Art. 23 in das GG eingefügt wurde. Er verpflichtet die Bundesrepublik Deutschland zur Verwirklichung des vereinten Europas bei der Entwicklung der Europäischen Union mitzuwirken. Hier werden die Worte vom “vereinten Europa” aus der Präambel aufgenommen. Der neue Wortlaut trat an die Stelle einer Bestimmung, die besagte, dass das Grundgesetz zunächst in den bestehenden Ländern der Bundesrepublik und nach dem Beitritt weiterer auch in diesen gelte. Der neue Wortlaut trat also an die Stelle einer Bestimmung, die das Bestehen und die Erweiterung eines Bundesstaates zum Gegenstand hat.

Was liegt näher als die Annahme, dass sich auch der neue Art. 23 die Entwicklung einer Staatenorganisation zum Gegenstand hat, die jedenfalls das Potenzial zur Entwicklung eines Bundesstaates hat?

5. Die hier vertreten Rechtsauffassung ist auch von politisch Handelnden so verstanden worden. Das Ziel “Vereinigte Staaten von Europa” war bis 1992 im Parteiprogramm der CDU enthalten und ist heute noch Ziel der überparteilichen Europa-Union Deutschlands. Verfassungsmäßige Bedenken sind dagegen nicht vorgebracht worden.

Fazit:

Die Befugnisse der gesetzgebenden Körperschaften, Hoheitsrechte auf die Europäische Union zu übertragen, in der Weise einzuschränken, wie es das Bundesverfassungsgericht im Lissabonurteil getan hat, hat im Grundgesetz keinerlei Basis. Diese Sicht zum Bestand des Verfassungsrechts zu erklären, läuft auf eine materielle Änderung des GG hinaus, ohne dass der Wortlaut geändert wird. Das ist nach Art. 79 I GG unzulässig.

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