Der politische Feind: mein gesamtes Erwachsenenleben hat bisher die Kontinuität durchzogen, dass man unter uns aufgeklärten, vernünftigen Linksliberalen über so etwas allenfalls verächtlich lächelt. Der reaktionäre Antikommunismus unserer Großeltern, der revolutionäre Antikapitalismus unserer Eltern, die „bleierne Zeit“ der RAF-Ära, die Islamistenangst der Gegenwart – mein Impuls war stets, mich von solch hoch polarisierten und aufgeladenen Konstellationen mitsamt der damit einhergehenden wohligen Erregung fern zu halten und aus der Gemeinschaft der im Kampf gegen einen Feind Verschworenen in eine ironische Beobachterposition zu flüchten, die zu beiden Seiten, wenn schon nicht gleich viel, so doch jedenfalls Abstand hält. Und damit fühlte ich mich im Regelfall völlig d’accord mit dem Mainstream meines professionellen, kulturellen und generationellen Milieus.
In diesen Tagen gerät da allerdings eine Menge in Bewegung.
Gemeinsam mit vielen anderen, mit Staatsoberhäuptern und Vizekanzlern, mit Filmstars und Fernsehkaspern und unzähligen weiteren Mitbürgerinnen und Mitbürgern in Deutschland verspüre ich den Drang nach einer radikalen Positionsbestimmung: Wir sind hier. Und ihr seid dort. Und nichts, kein Argument, kein Wert, keine Tradition, kein Interesse, keine Em- oder gar Sympathie, nichts, überhaupt gar nichts verbindet uns. Wir und ihr, das kann nicht koexistieren. Wir können nicht Wir sein, solange ihr Ihr sein könnt. Wir sind Feinde.
Warum diese massenhafte, die ganze Gesellschaft durchlaufende Positionsbestimmung jetzt passiert und nicht schon vor 25 Jahren, als die ersten Schwarzen mit Baseballschlägern durch ostdeutsche Innenstädte gejagt wurden und die ersten türkischen Familien in ihren in Brand gesteckten Häusern ums Leben kamen, darüber kann man sicher noch viele interessante Betrachtungen anstellen. Mich interessieren hier zwei andere Aspekte.
Zum einen: wenn eine solche Positionsbestimmung nicht nur dazu da sein soll, sich selbst ein gutes Gefühl zu verschaffen, dann muss sie die Frage beantworten, was mit den Grundrechten der Feinde passieren soll. Grundrechte und Feindschaft, das verträgt sich schlecht. Grundrechte sind so etwas wie ein Friedensvertrag einer ausdifferenzierten Gesellschaft mit sich selbst: Wir binden uns damit, euch frei eure Meinung sagen, euch frei euch versammeln, euch Ihr sein zu lassen, um wen immer es sich bei „euch“ gerade handelt. Genau das wollen wir die Nazis in Freital und Heidenau und sonstwo aber nicht lassen. Wir wollen die Vollpfosten auf Facebook nicht frei ihre rassistische, hasserfüllte Meinung sagen lassen. Wir wollen Hassparolen grölenden Rechtsradikalen vor Unterkünften voller traumatisierter Bürgerkriegsopfer nicht von ihrer Versammungsfreiheit Gebrauch machen lassen.
Der zweite Punkt: Feindschaft ist immer reflexiv. Das „Pack“ aus Freital und Heidenau hasst uns kosmopolitische, urbane, selbstbewusste, artikulierte, wohlhabende Aktivbürgerschaftsmischpoke kein bisschen weniger als wir sie, mitsamt unseren Politikern, unseren Juristen und unserer Lügenpresse. Wir brauchen uns nicht einbilden, mit unseren Feindschaftsbekundungen bei ihnen irgendetwas zu bewirken außer die Bestätigung des ohnehin bestehenden und völlig zutreffenden Eindrucks, dass sie von uns nichts Gutes zu erwarten haben. Das sind Leute, die ernsthaft glauben, dass den „Deutschen“ (also ihnen) durch Zuwanderung von Fremden ein ähnliches Schicksal bevorsteht wie den Indianern in den USA im 19. Jahrhundert. Eine Kriegserklärung durch kosmopolitische East Coast Liberals passt da voll ins Weltbild.
In der deutschen Gesellschaft insgesamt ist Rechtsextremismus und Ausländerfeindlichkeit, wenn man den Soziologen glauben darf, seit Jahren rückläufig. Die Bild-Zeitung macht keine offene Asylanten-Hetze mehr. Die NPD verliert eine Wahl nach der anderen. Die Rechtsextremen verlieren ihren gesellschaftlichen Rückhalt. Das ist natürlich erst einmal eine einschränkungslos gute Nachricht. Aber das heißt nicht, dass die Rechtsextremen, die es noch gibt, verschwinden werden.
Wo gehen die hin? Auf Youtube gab es gestern ein Video vom Besuch der Kanzlerin in Heidenau, auf dem nicht viel zu sehen, dafür aber eine junge Frau sehr deutlich zu hören ist, und was sie mit überschnappender Stimme von sich gibt, ist einigermaßen erschütternd. Die Kommentatoren lachen sich überwiegend schlapp. Ich frage mich: Wozu ist die wohl noch alles fähig?
Ich wäre nicht überrascht, wenn wir das Gröbste nicht hinter uns, sondern vor uns haben. Ich rechne mit rechtsterroristischen Anschlägen. Und zwar nicht allein auf Flüchtlingsunterkünfte. Sondern auf Kreuzberger Cafés und Friedrichshainer Clubs. Auf ICE-Waggons zwischen Berlin und Hamburg. Auf uns.