FDP, Grüne und Linke haben angekündigt, beim Bundesverfassungsgericht einen Normenkontrollantrag gegen den reformierten § 219a StGB zu stellen. Dies hat Alexander Thiele in einem anregenden Beitrag auf diesem Blog kritisiert. Sein Vorwurf: Die abstrakte Normenkontrolle werde politisch instrumentalisiert und der politische Streitraum auf diese Weise eingeengt. Beides sind aber keine speziellen Probleme der abstrakten Normenkontrolle oder gar einer einzelnen Klage, sondern allgemeine Phänomene. Kritik und Änderungsvorschläge müssten deshalb eher bei der Institution Bundesverfassungsgericht ansetzen.
Die Fortsetzung des politischen Streits: das vordergründige Problem
Das zentrale Thema von Thieles Beitrag betrifft die Frage, wer aus welchen Gründen das Bundesverfassungsgericht anruft.*Seine Kritik wendet sich dagegen, dass drei Oppositionsparteien versuchen, nach einer politischen Niederlage den im politischen Raum geführten Streit in einem rechtlichen Verfahren fortzusetzen. Dabei weist er mehrmals darauf hin, dass die abstrakte Normenkontrolle als Minderheitenrecht der Opposition ausgestaltet ist und dieser dadurch erst die Option einer Art „Rechtsaufsicht“ über die Mehrheit eröffnet wird. Aus dieser Perspektive läge die Situation anders, wenn ein Arzt Verfassungsbeschwerde gegen eine strafgerichtliche Verurteilung oder direkt gegen das Gesetz erheben würde, weil insoweit die Durchsetzung von Grundrechten als Individualrechten des Beschwerdeführers betroffen wäre.
Die Möglichkeit einer politischen Instrumentalisierung ist aber keine Besonderheit der abstrakten Normenkontrolle ist. Zwar ist die Verfassungsbeschwerde in der Tat anders als die abstrakte Normenkontrolle nicht eine reine objektive Rechtskontrolle, weil sie primär der Durchsetzung individueller Rechte dient (und gleichzeitig die spezifisch gerichtliche Funktion realisiert, Einzelschicksale aufzugreifen und für den politischen Prozess, in dem diese bis zum Abschluss des Gesetzgebungsverfahrens möglicherweise keine Rolle spielten, sichtbar zu machen). Aber auch die Verfassungsbeschwerde lässt sich als Mittel des politischen Kampfs einsetzen. Ein von einer politischen Entscheidung individuell Betroffener kann versuchen, diese rechtlich zu Fall zu bringen, weil er sie politisch ablehnt. Es ist deshalb auch nichts Ungewöhnliches, wenn gesellschaftliche Gruppen nach individuell Betroffenen suchen, um ein Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht führen zu können. Auch in solchen Fällen findet der politische Prozess seinen Abschluss erst mit der Entscheidung aus Karlsruhe.
Ein Beispiel sind die Verfassungsbeschwerden von Gewerkschaften, Parteien und anderen Organisationen gegen das Bayerische Versammlungsgesetz von 2008, die in der Hauptsache sogar als unzulässig abgewiesen wurden, aber zuvor bereits (in Folge einer einstweiligen Anordnung des BVerfG [BVerfGE 122, 342]) einige Änderungen des Gesetzes bewirkt hatten. Auch im Fall des Werbeverbots könnte man sich ein vergleichbares Vorgehen ohne Weiteres vorstellen. So kann ein den § 219a StGB ablehnender Arzt, eventuell mit Unterstützung bestimmter gesellschaftlicher Organisationen, eine Verfassungsbeschwerde erheben, gerade weil er die politische Entscheidung für falsch hält und über den rechtlichen Weg doch noch zu Fall bringen will (es dürfte davon auszugehen sein, dass die verurteilte Ärztin Kristina Hänel gegen die noch ausstehende Revisionsentscheidung des Oberlandesgerichts eine Verfassungsbeschwerde erheben wird). Der einzige Unterschied zur abstrakten Normenkontrolle läge darin, dass der Arzt seine eigenen Rechte einsetzen würde, während die Oppositionsparteien die Verletzung der Grundrechte anderer geltend machen müssen. Freilich muss die Opposition dieses Klagerecht nicht haben, aber was ist so schlimm daran, wenn sie es hat und ausübt? Insoweit könnte man doch lediglich anführen, dass eine staatliche Maßnahme so lange Bestand haben solle, wie alle Betroffenen sie hinnehmen und keine Grundrechtsverletzung geltend machen. Das hat aber so ziemlich gar nichts mit der von Thiele zentral angeprangerten Einengung des politischen Streitraums zu tun.
Die rechtliche Entscheidung über politische Fragen: das eigentliche Problem
Richtig ist die weitergehende Feststellung Thieles, dass das Bundesverfassungsgericht seinen Entscheidungsmaßstab selbst setzt und die Überprüfung politisch umstrittener Entscheidungen zu einer materiellen Aufladung des Grundgesetzes führt, durch die politische Fragen dem parlamentarischen Diskurs entzogen werden. Aber was hat das noch mit der abstrakten Normenkontrolle oder gar der konkreten Klage gegen § 219a StGB zu tun? Das problematische Verhältnis von Verfassungsrecht(sprechung) und Politik hängt nicht von der Verfahrensart ab oder davon, ob die Grundrechtskontrolle nun durch einen Grundrechtsträger oder durch Oppositionsparteien initiiert wurde. Dass das Bundesverfassungsgericht seinen Maßstab selbst bildet, die Interpretationshoheit über die Verfassung innehat und durch seine Rechtsprechung den Raum für politische Auseinandersetzungen einengt, ist ein allgemeines Phänomen, das eher die Frage nach der Legitimation und den Grenzen der verfassungsgerichtlichen Kontrolle gesetzgeberischer Entscheidungen als die Kritik an einzelnen Klägern hervorrufen müsste.
Freilich ist auch den politischen Akteuren der Vorwurf zu machen, Verfassungsrecht zu sehr als äußeren Zwang zu sehen und politische Debatten zu sehr auf der verfassungsrechtlichen Ebene zu führen. Dass dies bei der Diskussion um das Werbeverbot vergleichsweise wenig der Fall war, ist zwar erfrischend und mag gegen die nun angestrengte Klage ins Feld geführt werden. Aber angenommen, das Bundesverfassungsgericht würde tatsächlich eine Antwort auf die politische Frage aus der Verfassung ableiten und § 219a StGB für verfassungswidrig erklären – wäre das die Schuld der drei Oppositionsparteien? Nun ist eine solche Entscheidung aus Karlsruhe sehr unwahrscheinlich, sodass im konkreten Fall ohnehin nur der Vorwurf bleibt, eine Klage trotz (äußerst) geringer Erfolgsaussichten zu erheben. „So what?“ ist man geneigt zu fragen. Thiele weist an dieser Stelle darauf hin, dass Urteile, die eine politische Entscheidung für verfassungsgemäß erklären, sich negativ auf den politischen Diskurs auswirken, weil sie in der Öffentlichkeit als inhaltliche Bestätigung durch das Bundesverfassungsgericht verstanden werden.
Wenn jedoch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts schon generell die Einengung des politischen Streitraums und eine Delegitimierung von Politik bewirkt – ist das Kind dann nicht schon in den Brunnen gefallen? Macht eine einzige Klage der Opposition das Ganze so viel schlimmer? Anders gefragt: Müsste nicht an anderer Stelle, nämlich beim Bundesverfassungsgericht, etwas geändert werden? Statt über eine bestimmte Klage oder eine bestimmte Verfahrensart zu diskutieren, sollten wir eher überlegen, wie die negativen Auswirkungen der Verfassungsrechtsprechung auf den politischen Entscheidungsraum reduziert werden können. Mehr „judicial self-restraint“ lautet hier die harmloseste, Abschaffung der Normverwerfungskompetenz die radikalste Forderung. Das Vorgehen der drei Oppositionsparteien mag nicht besonders sinnvoll oder gar kontraproduktiv sein, aber das wirkliche Problem liegt nicht bei den Klägern, sondern beim Gericht.
*Ich danke Matthias K. Klatt dafür, das so deutlich formuliert zu haben.