Ich komme gerade von einer sehr hochkarätig besetzten Konferenz des Gesprächskreises Recht und Politik und der Friedrich-Ebert-Stiftung zum Thema „Grenzen der europäischen Integration“. Habermas war da, und Fritz Scharpf und viele andere, und darüber, was sie zur Euro-Krise und ihren Auswirkungen auf die EU gesagt haben, werde ich einen gesonderten Text für die FAZ schreiben.
Hier will ich einstweilen einen anderen Punkt aufgreifen, auf den Georg Nolte heute hingewiesen hat, der Staatsrechtler von der Humboldt-Universität. Es geht um den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). Über die Pläne der Briten, dieser ehrwürdigen und wichtigen Institution ein paar Zähne zu ziehen, habe ich ja bereits ausführlich berichtet.
Die britischen Tories nehmen die derzeitige Euro-Krise als Chance war, Kompetenzen wieder auf die nationale Ebene zurückzuholen. „Repatriation of powers“ ist das Stichwort, das Cameron dauernd im Munde führt, wenngleich kein Mensch weiß, was für Kompetenzen er damit eigentlich meint. Ich vermute, das weiß auch Cameron nicht so genau – aber seine Anhänger erwarten, dass er auch was liefert, wenn er den Mund schon so voll nimmt. Das wird er aber, was die EU-Verträge betrifft, nicht hinbekommen. Um so günstiger ist für ihn die Gelegenheit, sich am EGMR auszulassen.
Ich würde Georg Nolte Recht geben, der dahinter die Absicht eines „Kompensationsgeschäfts“ vermutet: Wenn in der EU der Zug in Richtung Wirtschaftsregierung fährt, so Noltes Vermutung, könnten die Briten sich dafür bei der EMRK entschädigen lassen.
Sinn macht das insofern, als die Briten immer von „Subsidiarität“ sprechen, wenn sie sich über den EGMR beschweren: Die Vorstellung ist, was die nationalen Gerichte auch alleine können, das soll der EGMR ihnen auch überlassen, zumal er mit seinen 140.000 aufgelaufenen unentschiedenen Fällen doch eigentlich froh sein müsste für jede Gelegenheit, sich nicht zu viel Arbeit mit vermeintlichem Kleinkram aufzuhalsen.
Ich glaube nicht, dass die Briten tatsächlich eine Änderung in der Konvention anstreben. Das hätte auf absehbare Zeit bei 47 Vetospielern keine Chance. Ich glaube auch nicht, dass sie tatsächlich in Betracht ziehen, aus der Konvention auszutreten – eine Möglichkeit, die der Darmstädter Politologe Peter Niesen heute an die Wand malte. Das deuten zwar manche Tory-Politiker immer wieder mal an. Aber erstens sind die LibDems strikt dagegen, und zweitens ist das auch gar nicht im Interesse der Briten: Die EMRK-Mitgliedschaft ist Voraussetzung für die EU-Mitgliedschaft. Die Drohung mit dem Austritt ist im einen Fall genauso durchschaubarer Theaterdonner wie im anderen.
Stattdessen üben sie Druck auf den EGMR aus, indem sie über die „Subsidiarität“ des EGMR reden: Sie seien doch ein prima Rechtsstaat mit eigener, gut funktionierender Justiz und hätten im Normalfall Belehrungen aus Straßburg nicht nötig. Straßburg solle sich auf eklatante Menschenrechtsverletzungen konzentrieren, um verschwundene Tschetschenen und gefolterte Türken, aber nicht um Leute, die wegen jeder Kleinigkeit die wackeren britischen Behörden vor den Menschenrechtsgerichtshof zerren.
Das klingt auf den ersten Blick völlig plausibel, und deshalb ist es vielleicht gar nicht so sehr überraschend, dass bei der Konferenz heute viele in der Diskussion fanden, die Briten hätten gar nicht so unrecht. Der Hamburger Staatsrechtler Karl-Heinz Ladeur beispielsweise zieh Nolte und Niesen der „Anmaßung“, weil sie den Briten die deutsche Vorstellung verfassungsgerichtlicher Normenkontrolle aufokroyieren wollten (was beide ziemlich brüsk zurückwiesen). Der Politologe Jürgen Neyer aus Frankfurt/Oder stellte die Frage, warum überhaupt Demokratien der EMRK beitreten sollten und ob man nicht über eine „qualifizierte Mitgliedschaft“ und eine „EMRK à la carte“ nachdenken sollte.
Der Witz an der EMRK ist aber, und darauf wies Nolte sehr deutlich hin, dass es gerade nicht nur um das eigene Land und seine Menschenrechtsstandards geht. Es heißt Europäische Menschenrechtskonvention: Sie soll dafür sorgen, dass in Europa kein Staat Leute misshandelt und dabei behauptet, das sei eine innere Angelegenheit, die niemand anderen etwas angehe. Menschenrechtsverletzungen gefährden Frieden und Stabilität in ganz Europa. Und das geht die anderen etwas an.
Natürlich ist die EMRK vor allem für die Tschetschenen, die Ukrainer und die Türken da und nicht so sehr für die Briten, Niederländer und Dänen, denen es auch so ganz gut geht – aber gerade deshalb müssen die Briten und die Niederländer und die Dänen sich damit abfinden, mehr noch: von ganzem Herzen dafür sein, dass der EGMR sich auf das Heftigste aktivistisch gebärdet. Dass er sich mit jeder Bully-Regierung anlegt und dabei keinem Konflikt aus dem Wege geht. Wenn die Tschetschenen, Ukrainer und Türken etwas haben sollen vom EGMR, dann muss dieser ein rauflustiger, ein grob in die inneren Angelegenheiten dieser Länder eingreifender EGMR sein. Ein schüchterner, ein lieber EGMR, der die Subsidiarität heiligt und keinem nationalen Staatsanwalt oder Strafrichter auf die Zehen steigen möchte, einen solchen EGMR braucht in der Tat kein Mensch.
Wir wollen in ganz Europa keine Menschenrechtsverletzungen mehr, nicht nur im eigenen Land. Wir wollen, dass der EGMR den Konsens, welchen Schutzstandard die Menschenrechte verlangen, in ganz Europa durchsetzt. Das ist sein Job.
Was ist wichtiger: unser Interesse, von Straßburg in Ruhe gelassen zu werden? Oder unser Interesse, dass andere nicht von Straßburg in Ruhe gelassen werden? Die Briten geben offenbar zurzeit, aus fadenscheinigen politischen Gründen, dem ersteren Interesse den Vorzug. Um so mehr sollten wir zu denen gehören, die dem zweiteren Gewicht verleihen.
