In der Coronakrise arbeiten Wissenschaftler auf der ganzen Welt unter Hochdruck an Impfstoffen und Medikamenten gegen das Virus. Die Krise zeigt: Ohne ein funktionierendes Wissenschaftssystem jenseits staatlicher Grenzen geht es nicht. Dabei unterliegen jedoch auch Virologen mit ihrer Forschung der Dual-Use-Verordnung, die sie erheblich in ihrer Kommunikation und somit in ihrer Wissenschaftsfreiheit einschränkt.
Wissenschaftsfreiheit in den Grenzen der Dual-Use VO
Die rechtliche Situation ist für Virologen nicht ideal. Insbesondere die Publikation von Forschungsergebnissen wird maßgeblich durch die Dual-Use Verordnung (Verordnung (EG) Nr. 428/2009) reglementiert. Diese Verordnung sieht in Art. 3 Abs. 1 vor, dass Forscher, die an den in Anhang 1 gelisteten Stoffen forschen, für die Ausfuhr ihrer Forschungsergebnisse außerhalb der EU einer Genehmigung bedürfen. Zu den gelisteten Stoffen gehören auch Impfstoffe für bestimmte Influenzaviren. Gemäß Art. 2 Nr. 2 iii) Dual-Use VO fällt unter den Begriff der Ausfuhr dabei nicht nur die eigentliche Veröffentlichung der Forschungsergebnisse, sondern auch schon jedes Telefonat und jede E-Mail im Zuge der Forschungszusammenarbeit mit Wissenschaftlern außerhalb der EU und selbst mit Arbeitskollegen, die sich vorübergehend in einem Drittstaat befinden. Die Erwägungsgründe der Verordnung rechtfertigen solche tiefgreifenden Eingriffe in die durch Art. 13 GRC geschützte Wissenschaftsfreiheit mit Sicherheitserwägungen. In internationalen Debatten wurde insbesondere der Schutz der Bevölkerung vor terroristischen Anschlägen durch Biowaffen betont: Es bestehe Sorge, dass Forschungsergebnisse durch Terroristen für Anschläge missbraucht werden könnten.
Der niederländische Wissenschaftler Ron Fouchier verlor im September 2013 einen Prozess vor einem niederländischen Gericht, als er sich gegen die Genehmigungsbedürftigkeit der Veröffentlichung seiner Forschungsergebnisse zur Influenzaforschung nach der Dual-Use VO wandte. Er wollte einen Artikel in der amerikanischen Zeitschrift Science ohne vorige staatliche Genehmigung veröffentlichen. Auf die anschließende Kritik an der Dual-Use VO durch die European Society of Virology hin hatte die Europäische Kommission vage angekündigt, Wissenschaftler in das System der Ausfuhrkontrolle von Forschungsergebnissen stärker einzubeziehen. Seither sind allerdings keine wesentlichen Änderungen vorgenommen worden.
Sicherheitsgewährleistung, die Gefahren birgt
Die Publikationsbeschränkungen aufgrund der Dual-Use VO stellen massive Eingriffe in die Wissenschaftsfreiheit dar und sind im Hinblick auf die Influenzavirenforschung unverhältnismäßig. Es ist schon sehr fraglich, ob die Publikationsbeschränkungen überhaupt geeignet und erforderlich sind, die Sicherheit der Bevölkerung zu gewährleisten. Zunächst sei darauf hingewiesen, dass mit Freiheitseinschränkungen aus Sicherheitserwägungen grundsätzlich vorsichtig umgegangen werden sollte. Dies gilt besonders in Fällen, in denen es, wie vorliegend, fraglich ist, ob Freiheitsbeschränkungen überhaupt mehr Sicherheit schaffen, als sie Gefahren bergen. Es ist schon zweifelhaft, ob Publikationsbeschränkungen überhaupt dazu beitragen, die Gesellschaft sicherer zu machen. Die Influenzavirenforschung und die damit zusammenhängende wissenschaftliche Kommunikation fördern nämlich ihrerseits Sicherheit, da die Entwicklung eines Impfstoffs vor Epidemien schützt und den potenziellen Missbrauch des Stoffs, gegen den er entwickelt wurde, unattraktiver macht.
Die angenommene Gefährdung von Leben und Gesundheit der Bevölkerung, die den Publikationsbeschränkungen zugrunde liegt, geht außerdem von hypothetischen Handlungen Dritter aus. So ist schon unsicher, ob Dritte vorhaben, Ergebnisse aus der Influenzavirenforschung zum Bau von Biowaffen zu verwenden. Darüber hinaus ist zweifelhaft, ob die veröffentlichten Forschungsergebnisse von Dritten überhaupt in rechtsgutsbeeinträchtigender Weise genutzt werden könnten. Schließlich liegt solcher Forschung ein gewisses Maß an implizitem Wissen zu Grunde. Die Ereignisse der letzten Wochen und Monate haben vielmehr einen anderen Aspekt gezeigt, auf den auch in der Debatte um die Forschung Fouchiers bereits hingewiesen wurde: Die Natur selbst kann der bedrohlichste „Terrorist“ sein.
Forschung ist Kommunikation
Jedenfalls ist diese Form der Publikationsbeschränkung nicht angemessen. In Debatten, in denen Kosten-Nutzen-Erwägungen angestrengt werden, darf nicht vergessen werden, dass bereits der Erkenntnisgewinn des einzelnen Wissenschaftlers seiner Selbstverwirklichung dient und ein zu schützender Wert ist, den Publikationsbeschränkungen verkürzen. Vor allem aber wirkt sich die Beschränkung von wissenschaftlicher Kommunikation auf die Funktionsfähigkeit des Systems der Wissenschaft an sich aus. Diese wiederum kann nicht nur Freiheit, sondern selbst auch Sicherheit gewährleisten.
Insbesondere die Zusammenarbeit mit anderen Forschern ist ein wichtiger Teil der Wissenschaftsfreiheit. Oftmals wird Wissen erst über wissenschaftliche Kommunikation erlangt, die so einen wichtigen Beitrag zu wissenschaftlichen Erkenntnisprozessen leistet. Zum einen führt der Austausch mit anderen Wissenschaftlern zu neuen Denkanstößen, zum anderen findet in der modernen Wissenschaft eine enorme Arbeitsteilung statt. Denn Forscher müssen sich teilweise auf für sie nur eingeschränkt überprüfbare Forschungsergebnisse anderer verlassen, um in ihrer eigenen Forschung Fortschritte zu machen. Könnten sie nicht nicht auf den Stand der Wissenschaft aufbauen, müsste Forschung immer wieder neu anfangen. Kommunikation ist also nicht nur die rechtlich geschützte Äußerung der Erkenntnis eines Wissenschaftlers, sondern auch Voraussetzung für neue Erkenntnis anderer Wissenschaftler. Als Formen der Kommunikation sind wissenschaftliche Veröffentlichungen essenziell für den Aufbau einer Reputation, die im System Wissenschaft als „Währung“ dient und Ansporn für Wissenschaftler ist, qualitativ hochwertig und innovativ zu arbeiten. Kommunikation dient auch als Kontrolle der gefundenen Forschungsergebnisse und ist somit relevant, um die Qualität in der Forschung zu sichern. Diese Bedeutung der Kommunikation betonte auch schon Karl Popper, der argumentierte, wissenschaftliche Theorien könnten niemals bewiesen, sondern nur widerlegt werden. Solange eine Theorie nicht widerlegt sei, gelte sie aus wissenschaftlicher Sicht, ohne dass man sie als zweifelsfrei wahr ansehen könne. Die Aufgabe der Wissenschaft ist also maßgeblich nicht Forschung allein, sondern auch Kommunikation über Forschung, die letztlich dazu beitragen kann, Theorien zu widerlegen. Wissenschaftszeitschriften kommt dabei eine wichtige Rolle zu: Sie fördern Erkenntnisprozesse, Innovation und Wettbewerb und führen zur Herausbildung von Professionalismus. Die Coronakrise führt eindrücklich vor Augen, dass viele der Herausforderungen, vor denen die Wissenschaft steht, globaler Natur sind. In diesen Situationen kann die Bedeutung von internationaler Kommunikation nicht überbetont werden. Gerade jetzt braucht es eine global vernetzte Wissenschaft, die sich gemeinsam der Erforschung von Impfstoffen und Medikamenten annimmt.
Wissenschaftsfreiheit als Rechtsstaatsscharnier
Darüber hinaus hat Wissenschaft die Funktion, den Wissensbedarf von Staat und Gesellschaft zu stillen: staatliche Wissenschaftsbeschränkungen gestalten damit letztlich das Wissen der Gesellschaft. Die Wissenschaft nimmt insbesondere eine wichtige Rolle für die Umsetzung des Rechtsstaatsprinzips ein, das rationales und berechenbares Handeln des Staates voraussetzt. Denn der Staat selbst verfügt bei Weitem nicht über einen Wissensvorsprung im Sinne Max Webers, der seine Herrschaft legitimieren könnte. Vielmehr muss er sich die für die Entscheidungsfindung notwendigen Informationen oftmals erst beschaffen. Die aktuelle Situation in der Coronakrise zeigt, wie sehr politische Entscheidungen von Einschätzungen und Prognosen der Virologen beeinflusst werden und welche gewichtige Rolle sie bei der Herausarbeitung von möglichst verhältnismäßigen Maßnahmen gegen die Ausbreitung der Pandemie einnehmen.
Eine Genehmigungspflicht für Publikationen, aber insbesondere auch für Telefonate, Emails und jede andere Form von grenzüberschreitender Kommunikation, hindert das System Wissenschaft erheblich in seiner Wirkungsweise. Sie birgt ihrerseits eigene Risiken für die Sicherheit, da die Problemlösungspotenziale der Wissenschaft nicht ausgeschöpft werden. Gerade in diesen Tagen, in denen auf internationalem Parkett um Virologen gestritten wird, zeigt sich, dass eine effektive Impfstoffforschung dem Schutz der Bevölkerung dient. Darüber hinaus wird deutlich, dass wissenschaftliche Expertise Voraussetzung für rationales staatliches Handeln ist. Um die Handlungsfähigkeit des Wissenschaftssystems zu erhalten, ist es aber notwendig, ihm ein gewisses Maß an Vertrauen entgegenzubringen.