Angesichts der multiplen Krisen, mit denen sich unsere Gesellschaft konfrontiert sieht, stellt sich immer dringender die Frage, woher das Geld für ihre Bewältigung kommen soll. Diese Frage beantwortet das Grundgesetz seit dem Jahr 2009 mit einer klaren Ansage: Aus Schulden jedenfalls nicht.
Doch seit Inkrafttreten der Schuldenbremse versuchten politische Akteure aller Couleur, die Grenzen dieser Grundsatzentscheidung auszutesten. Ob beim Corona-Sondervermögen des (CDU-regierten!) Landes Hessen oder nun im Fall der Verschiebung von Corona-Notkrediten in den Klima- und Transformationsfonds (KTF) des Bundes durch den zweiten Nachtragshaushalt 2021: Gerade die Coronapandemie wurde als willkommener Anlass behandelt, auch in anderen Politikbereichen Finanzspielräume zu schaffen.
Die Schuldenbremse stand so an einem Scheideweg: Würde sie neuer Staatsverschuldung tatsächlich Einhalt gebieten oder den Weg ihrer wenig wirksamen Vorgängerregelung gehen? Nun hat das BVerfG den zweiten Nachtragshaushalt 2021 für verfassungswidrig erklärt. Damit steht fest, dass sich das verfassungsrechtliche Verschuldungsverbot nicht überlisten lässt.
Absage mit Ansage
So hohe Wellen das Urteil geschlagen hat, so sehr musste doch mit ihm gerechnet werden. Das Gericht hatte bereits im vergangenen Winter über den ebenfalls von der Unionsfraktion eingelegten Eilantrag gegen den Nachtragshaushalt entschieden ‒ und dabei aus seinen Zweifeln an der Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes kein Geheimnis gemacht. Tatsächlich sind die dort angedeuteten Kritikpunkte dem Gesetz nun zum Verhängnis geworden.
Die Entscheidung des BVerfG ruht auf zwei zentralen Säulen, die gemeinsam das Bild einer unzulässigen Umgehungskonstruktion zeichnen (für eine ausführliche Analyse der Einzelheiten des Urteils: https://verfassungsblog.de/das-ende-der-groszugigkeit/). Erstens moniert das Urteil, dass der Nachtragshaushalt gegen zentrale Haushaltsgrundsätze verstoße (Rn. 155 ff.). So seien auch Nachtragshaushalte für einzelne Jahre getrennt aufzustellen (Jährlichkeitsprinzip) und grundsätzlich innerhalb des Haushaltsjahres zu vollziehen (Jährigkeitsprinzip). Diese technisch anmutenden Vorschriften dienen dem überaus praktischen und demokratisch wichtigen Zweck, dem Parlament die wirksame Herrschaft über den Bundeshaushalt zu sichern. Indem mit dem Nachtragshaushalt Kreditermächtigungen, die im Jahr 2021 im Kontext der Coronapandemie genehmigt worden waren, im KTF „geparkt“ wurden, um aus ihnen zu einem unbenannten Zeitpunkt unbenannte Maßnahmen finanzieren zu können, wurde dem Parlament als Haushaltsgesetzgeber die Kontrolle über Milliardenbeträge weitgehend aus der Hand genommen.
In der öffentlichen Debatte spielte im Vorfeld dagegen der zweite Problemkreis die Hauptrolle, nämlich die Frage nach einer Zweckentfremdung von Krisenkrediten. Auf den ersten Blick scheint die Missbräuchlichkeit der Mittelzuweisung unbestreitbar, geradezu frech in ihrer Offenkundigkeit: Kreditermächtigungen in einschüchternder Höhe, die kurz zuvor für die Bekämpfung der Coronapandemie gewährt worden waren, werden in einen lange vor der Krise geschaffenen Fonds verschoben, um einem Zweck zu dienen, der mit der Pandemie reichlich wenig zu tun hat – dem Klimaschutz.
Doch bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass die Dinge vielleicht doch nicht so einfach liegen, wie man meinen könnte. Zwar müssen Kredite, die unter der Notlagenklausel der Schuldenbremse aufgenommen wurden, zur Bekämpfung ebendieser Notlage verwendet werden. Was das aber genau heißt, war bislang unklar. So berief sich die Bundesregierung darauf, dass die Pandemie einen gesamtwirtschaftlichen Abschwung verursacht habe. Diesem durch öffentliche Investitionen entgegenzuwirken, sei gerade Teil der Krisenbewältigung ‒ und wenn man schon Geld ausgebe, dann sei es doch nur sinnvoll, es in einen zukunftsträchtigen Bereich wie den Klimaschutz zu lenken.
Rechtliche Klarheit in der Krisen-Grauzone?
Damit ist die Frage aufgeworfen, anhand welcher Maßstäbe zulässige Krisenmaßnahmen von missbräuchlichen Zweckentfremdungen zu unterscheiden sein sollen. Diese Frage hat das Gericht in vielerlei Hinsicht zugunsten der Bundesregierung entschieden: Ausgaben müssen nur geeignet, nicht aber erforderlich und im engeren Sinn verhältnismäßig, d.h. angemessen, sein, um dem angegebenen Ziel zu dienen (Rn. 144 ff.). Hinsichtlich der Geeignetheit der Ausgaben beschränkt sich das Gericht auf eine bloße Plausibilitätskontrolle der zu erbringenden Darlegungen (Rn. 137). Auch verzichtet es darauf, zwischen mittelbaren und unmittelbaren Krisenfolgen zu unterscheiden, da es diese Abgrenzung ohnehin für nicht praktikabel hält (Rn. 136).
Umso überraschender mag es daher erscheinen, dass das Gericht die nötige Krisenkonnexität im Ergebnis verneint. Der Gesetzgeber habe nicht hinreichend dargelegt, dass die ergriffenen Maßnahmen zur Krisenbewältigung notwendig seien (Rn. 197 ff.). Dabei nennt das Urteil zahlreiche Faktoren, die zu verschärften Rechtfertigungsanforderungen führen sollen, etwa die zunehmende Mittelbarkeit der Krisenfolgen und der zeitliche Abstand zu dem ursprünglichen Krisenereignis.
Tatsächlich wären die vom Gericht geforderten Darlegungen seitens des Gesetzgebers wünschenswert gewesen. Dennoch fragt sich, ob das Gericht hier nicht die Chance für eine dogmatisch fundiertere Abgrenzung verpasst hat. Schließlich kennt die Schuldenbremse mit der Konjunkturkomponente ein spezifisches Instrument, das es erlaubt, Abweichungen von der wirtschaftlichen Normallage mit einem fiskalischen Eingreifen zu begegnen. Während das Gericht kurz auf die fehlende Abgrenzung zwischen Notlagenklausel und Konjunkturkomponente hinweist (Rn. 205), verzichtet es auf eine tiefergehende Auseinandersetzung mit der Frage, ob nicht die längerfristigen wirtschaftlichen Auswirkungen einer Notlage vielmehr anhand der zweiten Ausnahmeregelung – der Konjunkturkomponente – zu behandeln wären (hierzu ausführlich: Schwarz RuP 2022, 245 (251 ff.)). Somit bleibt das systematische Verhältnis der beiden Instrumente auch nach höchstrichterlicher Befassung schwammig. Dabei wäre eine Klärung gerade hier nützlich gewesen, um das Schicksal des Nachtragshaushalts nicht auf eine kaum zu rationalisierende Einschätzung über die Vertretbarkeit der Begründungsversuche des Gesetzgebers, sondern auf ein in sich kohärenten Verständnis des staatsschuldenrechtlichen Regelsystems zu stützen. Ein solcher Ansatz würde die weitgehend der Willkür des Gesetzgebers unterworfene Notlagenklausel nur auf die Bewältigung eng verstandener unmittelbarer Krisenfolgen anwenden. Verstetigte wirtschaftliche Abschwünge blieben indes dem strengeren Regelwerk der Konjunkturkomponente unterworfen.
Die Repolitisierung des Politischen
Trotz vereinzelt unklar gebliebener Details wirft das Urteil weniger rechtliche als politische Fragen auf. Rechtlich blieb dem Gericht keine andere Wahl, als den Nachtragshaushalt zu kassieren. Alles andere hätte signalisiert, dass das Verschuldungsverbot nicht mehr ist als eine Herausforderung zum Erfinden möglichst kreativer Umgehungskonstruktionen. Man mag zur Schuldenbremse stehen, wie man will ‒ sie ist geltendes Recht, dem auch das BVerfG verpflichtet ist.
Politisch hingegen hat Karlsruhe mit seiner Entscheidung eine Bombe gezündet ‒ was sich schon in dem doch ungewöhnlichen Umstand zeigt, dass sich plötzlich alle Welt für die Feinheiten des Finanzverfassungsrechts interessiert.
Tatsächlich sprengt das BVerfG mit einem Handstreich den Selbstbetrug, der die politische Debatte in den vergangenen Jahren geprägt hat. Der Klimaschutz und, sollten wir diesen vernachlässigen, erst recht die Folgen des Klimawandels werden unsere Gesellschaft sehr viel Geld kosten, das irgendwoher wird kommen müssen. Dieser unumgänglichen Realität steht jedoch eine tief verwurzelte Sparmentalität gegenüber, für die Deutschland seit Jahrzehnten international berühmt und in manchen Teilen der Welt auch berüchtigt ist ‒ und die zu ignorieren wahltaktisch riskant wäre. Die Politik wollte glauben, dass sie diesen beiden Zwängen zugleich würde Einhalt gebieten können.
Und in der Tat war unwahrscheinlichen politischen Koalitionen über einige Jahre die scheinbare Quadratur des Kreises gelungen: volle Kassen und Klimaschutz, die grüne Null. Nunmehr steht fest, dass sich tiefgreifende gesellschaftliche Konflikte nicht mit Kassentricks kitten lassen — es führt kein Weg daran vorbei, sie auszutragen. Wo mancherorts das Stützen der Schuldenbremse durch das BVerfG als Entpolitisierung der Königsdisziplin des Parlaments – der demokratischen Haushaltskontrolle – kritisiert wird , ist das Gegenteil der Fall. Die neue Rigidität der Schuldenbremse zwingt uns zur politischsten aller Verhaltensweisen: Wir müssen die harte, kontroverse Entscheidung treffen, wie es mit unserer Gesellschaft weitergehen soll – ohne Formelkompromisse, ohne Tricksereien, ohne Stundung der politischen Verantwortungübernahme durch das Bundesverfassungsgericht.