Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit, Wahrung der Menschenrechte. Das sind laut EU-Vertrag die Werte, auf die sich die Europäische Union stützt und die jedes Land achten muss, das Mitglied werden oder bleiben will. Sind das mehr als hohle Worte? Das stellt sich jetzt gerade heraus, da die EU-Kommission prüft, ob die neue Verfassung des Mitgliedsstaates Ungarn mit europäischem Recht noch vereinbar ist oder nicht.
Fangen wir mal bei der Demokratie an. Wie immer man sie genau definiert, eins gehört ja wohl auf jeden Fall dazu: die Möglichkeit, die Regierung loszuwerden, wenn die Bevölkerung mehrheitlich mit ihr unzufrieden ist. Die zum Jahreswechsel in Kraft getretene Verfassung Ungarns und die folgenden Ausführungsgesetze tun aber alles, um diese Möglichkeit auszuschließen. Das neue Wahlrecht optimiert den Zuschnitt der Wahlkreise zugunsten der Regierungspartei FIDESz. Es gibt keine unabhängige Wahlleitungskommission mehr. Und falls FIDESz trotzdem abgewählt werden sollte, ist dafür gesorgt, dass trotzdem ohne sie nichts geht: Für grundlegende Reformen ist im Regelfall eine Zweidrittelmehrheit notwendig, ebenso um Schlüsselpositionen wie den Generalstaatsanwalt oder den Chef der Medienaufsicht, im Moment alles treue FIDESz-Gefolgsleute, neu zu besetzen.
Der nächste Punkt: Rechtsstaatlichkeit. Mehr als 200 meist hochrangige Richter mussten zum Jahreswechsel ihre Positionen räumen, darunter der Präsident des Obersten Gerichtshofs. Ihre Posten vergibt künftig der Chef der Nationalen Justizbehörde, auch er ein treuer Anhänger der Regierungspartei, der außerdem jeden Richter an ein anderes Gericht versetzen kann, wenn er mit ihm unzufrieden ist. Damit nicht genug: Eine in letzter Minute beschlossene Verfassungsänderung sorgt dafür, dass der Chef der Nationalen Justizbehörde und der Generalstaatsanwalt die einzelnen Fälle Gerichten ihrer Wahl zuweisen dürfen. Das Verfassungsgericht ist weitgehend entmachtet und obendrein mit Gefolgsleuten vollgepackt. Recht wird in Ungarn künftig so gesprochen, wie es der FIDESz-Regierung gefällt.
Von der Pressefreiheit haben wir noch gar nicht gesprochen. Aber auch so wird klar: Hier hat sich ein EU-Mitgliedsstaat entschlossen, der gemeinsamen Wertebasis der europäischen Union die Gefolgschaft aufzukündigen. Niemand kann sich darauf herausreden, das sei eine innere Angelegenheit Ungarns, die niemand anderen etwas angehe. Auf diese Werte haben sich die Mitgliedsstaaten wechselseitig verpflichtet. Alle tragen die Verantwortung, die Einhaltung dieser Verpflichtung auch einzufordern.
Wie das geht, steht in Artikel 7 des EU-Vertrages: Demnach können die anderen Mitgliedsstaaten beschließen, dass der Sünderstaatseine Rechte zeitweilig nicht mehr ausüben kann, insbesondere seine Stimmrechte im Rat. Das hat seine Logik: Ein Staat, der nicht Gewähr bietet, dass seine Entscheidungen legitim zustande kommen, darf die Entscheidungen der EU nicht mit gestalten.
Bisher zumindest redet aber keiner in Europa davon, diesen Weg zu beschreiten. Die Kommission prüft punktuell, ob die ungarische Verfassung EU-Recht verletzt, etwa in der Frage der Unabhängigkeit der Notenbank. Das ist löblich, aber wird dem Problem nicht gerecht. Dazu kommt, dass Ungarns Regierung vorgesorgt hat: Sollte Ungarn zu Strafzahlungen verurteilt werden, dann können diese laut Verfassung durch eine Sondersteuer finanziert werden. Nicht die Regierung müsste den Preis zahlen, sondern die Bevölkerung, mit entsprechendem Volkszorn gegen Brüssel als Folge.
Einen Hebel bekommt die Kommission dadurch in die Hand, dass das tief verschuldete Ungarn dringend Finanzhilfen braucht. Sie kann diese Hilfen von verfassungspolitischen Zugeständnissen abhängig machen. Aber mit der Finanznot haben die zumeist gar nichts unmittelbar zu tun. Das ist ein zweifelhafter Weg, zumal so die ungarische Regierung zusätzlich reichlich Munition bekommt, gegen die EU Stimmung zu machen.
Warum redet niemand von Artikel 7? Weil er Einstimmigkeit erfordert. Alle Mitgliedsstaaten müssen mitziehen, um die Sanktion zu verhängen. Die Kommission befürchtet mit gewissem Recht, dass sie sich darauf nicht verlassen kann. Mit der Pressefreiheit hat von Italien bis Frankreich schließlich auch manch anderer Staat seine Probleme. Was nicht viel mehr beweist als dies: Die Schande Ungarns ist auch unsere eigene.
Dieser Kommentar lief heute im Deutschlandfunk in der Sendung Themen der Woche.