Gestern platze in der Eurogruppe eine Bombe in Gestalt eines Papiers aus der Feder des Bundesministeriums der Finanzen (BMF), das eine Strategie für einen Grexit skizzierte. In aller Kürze wird darin festgestellt, die letzten Vorschläge der Griechen seien nicht ausreichend, blieben hinter den bisherigen Vorschlägen zurück. Daher komme ein „weiter so“ nicht in Frage. Stattdessen möge Griechenland sein Tafelsilber an einen Treuhänder übertragen, damit er es veräußere und die Einnahmen zur Schuldenreduzierung verwende. Dies allein sei allerdings nicht ausreichend. Einer weiteren Schuldenrestrukturierung innerhalb der Eurozone stehe aber Art. 125 AEUV entgegen. Gemeint ist damit vor allem eine Restrukturierung der Schulden gegenüber den sogenannten offiziellen Gläubiger, also der anderen Mitgliedstaaten der Eurozone, EFSF und ESM. Deshalb, so heißt es lapidar, möge Griechenland vorübergehend die Eurozone verlassen, um nach finanzieller Genesung wieder einen Beitritt anzustreben.
Die Lektüre dieses Vorschlags irritiert. Nicht, dass das BMF dem demokratisch erklärten Willen des griechischen Volkes keinerlei Bedeutung beimisst. Das war zu erwarten. Es besteht auf harter Austeritätspolitik, einschließlich automatisch wirksam werdender Budgetkürzungen, sollten Sparziele verfehlt werden. Eine Steigerung derjenigen Politik also, deren Scheitern dieser Tage zu besichtigen ist. Dass auf dieser Grundlage das Treffen der Finanzminister der Eurozone am Samstag ergebnislos blieb, darf nicht überraschen.
Was aus juristischer Sicht weit schwerer wiegt ist die Behauptung, Griechenland könne wegen Art. 125 AEUV nur außerhalb der Eurozone seine Schulden gegenüber anderen Euro-Staaten und EFSF bzw. ESM restrukturieren. Man muss sich die Logik dieses Arguments auf der Zunge zergehen lassen: Das BMF ist der Ansicht, der rechtliche Rahmen der Eurozone zwinge ein Land erst einmal dazu, die Eurozone zu verlassen, um ihr dann wieder beizutreten. Als ob die Währungsunion nicht nach Art. 3 Abs. 4 EUV klar als Ziel der Union definiert worden wäre und die Nichtmitgliedschaft im Euro in Art. 139 AEUV als rechtfertigungsbedürftige Ausnahme. So wird die Ausnahme zur Regel, die Finalität der Wirtschafts- und Währungsunion auf den Kopf gestellt, um die scheinbar lästige Regel des Art. 125 AEUV zu umgehen. Ein Taschenspielertrick?
Ganz abgesehen von den rechtlichen Schwierigkeiten, die ein Grexit aufwirft, ist dieses Raus und Rein nach der Rechtsprechung des EuGH gar nicht erforderlich. Vielmehr kann Griechenland unter bestimmten Voraussetzungen seine Schulden auch gegenüber offiziellen Gläubigern innerhalb der Eurozone restrukturieren. In der Rechtssache Pringle hat der EuGH sich für eine teleologische Auslegung von Art. 125 AEUV entschieden. Danach dürfen die Union und die Mitgliedstaaten einem Mitglied der Eurozone sehr wohl finanzielle Unterstützung leisten, sofern dies im Rahmen einer auf Stabilität gerichteten Haushaltspolitik erfolgt. Sprich, das Empfängerland muss immer noch genügend Anreize haben, seine Staatsfinanzen in Ordnung zu bringen. Art. 125 AEUV sperrt sich nicht dagegen, dass die anderen Mitgliedstaaten ihm dabei helfen, ob direkt oder über EFSF und ESM.
Im Urteil zur OMT-Politik der EZB hat der EuGH sogar die Möglichkeit in Betracht gezogen, dass die EZB infolge des Erwerbs griechischer und anderer Staatsanleihen Verluste erleiden könne, nämlich wenn die entsprechenden Forderungen im Fall einer Staatsinsolvenz nicht oder nur teilweise eingetrieben werden können. Wenn dies mit den für die EZB geltenden, dem EuGH zufolge gegenüber Art. 125 AEUV strengeren Voraussetzungen von Art. 123 AEUV vereinbar ist, dann dürfte eine aus dringenden Gründen erforderliche, auf Wiedererlangung der Haushaltsstabilität angelegte Restrukturierung der von anderen Mitgliedstaaten, EFSF und ESM gehaltenen griechischen Staatsschulden nicht gegen Art. 125 AEUV verstoßen. Aufgrund der teleologischen Herangehensweise sollte selbst dann gelten, wenn die Restrukturierung einen „Haircut“, also eine Reduktion des Nominalwerts der Forderungen miteinschließt.
Die Zulässigkeit einer solchen Restrukturierung ist, so sei nochmals betont, nicht voraussetzungslos. Art. 125 AEUV lässt sich keineswegs bedenkenlos beiseiteschieben. Eine Restrukturierung müsste erstens dringend erforderlich sein. Dies könnte am besten eine neutrale Instanz feststellen, wie Experten von UNCTAD vorgeschlagen haben. Im vorliegenden Fall kann man aber auf die Analyse des selbst in Griechenland finanziell engagierten IWF verweisen. Er hat bereits die Untragbarkeit der griechischen Staatsschulden bescheinigt. Zweitens müsste die Restrukturierung von einem auf Haushaltsdisziplin und echte, nachhaltige Veränderungen gerichteten Strukturreformprogramm begleitet sein. Maximilian Steinbeis hat bereits auf die Schwierigkeiten hingewiesen, die die Struktur der griechischen Machtverhältnisse diesem Vorhaben bereitet. Doch wenn jetzt kein günstiger historischer Moment ist, diese Strukturen aufzubrechen, dann nie.
Die Rechtsprechung des EuGH zeigt: Das Europarecht schaufelt sich nicht sein eigenes Grab. Man muss es nicht erst umgehen, um die Ziele der Union wahrhaft zu verwirklichen. Die Haltung des EuGH beruht auf der Einsicht, dass das Recht nur soweit zur Regelung einer Gesellschaft geeignet ist, wie es nicht mit dem Kopf gegen die Wand rennt.