Dies ist die Woche, in der wir begreifen, dass das Zeitungssterben eine Tatsache ist und nicht nur eine apokalyptische Vision irgendwelcher Internetgurus. In die Trauer um die Frankfurter Rundschau mischt sich bei vielen aber auch eine gewisse Herablassung: Na ja, die alte FR, furchtbar traurig natürlich, aber wenn man sich anschaut, wie diese einst so ruhmreiche Zeitung zuletzt gemacht wurde, ist das doch eigentlich kein Wunder. Das war ja schon lange nichts Gescheites mehr.
Aus dieser Perspektive wird aus der bitteren Erfahrung der Unausweichlichkeit des Zeitungssterbens das genaue Gegenteil, ein beinah angenehmer Vorgang, der die gute alte Journalistenwelt, wie wir sie kennen, kraftvoll zu bestätigen scheint: So wie die FR darf man es halt auch nicht machen! Hätten sie halt wieder eine tolle Zeitung gemacht, mit vielen guten Autoren und aufregenden Texten, dann wäre die FR bestimmt nicht pleite gegangen.
In Wahrheit ist es doch umgekehrt: Weil sie pleite gingen, konnten sie keine tolle Zeitung mehr machen.
Die „tolle Zeitung“ von früher
Die „tolle Zeitung“, wie die meisten von uns sie von früher kennen und lieben, mit der wir politisch sozialisiert wurden und die wir bereits jetzt – von wenigen, die Regel bestätigenden Ausnahmen abgesehen – eigentlich nirgends mehr finden, war eine ungeheuer aufwändige Veranstaltung. Die Hundertschaften bestens ausgebildeter und hoch bezahlter Redakteure, die hoch spezialisiert in ihren Berichtsfeldern eine Expertise entwickeln konnten, die sich mit jedem messen konnte – das war ein Luxus, den irgendwer bezahlen musste. Und wer war das?
Nur zum geringen Teil wir Leser. Auf solchem Niveau über byzantinische Ikonenmalerei und die Hintergründe des Ölpreisverfalls lesen zu können, war uns zwar sehr lieb, aber relativ wenig teuer. Unsere Abos deckten nicht einmal die Hälfte der Kosten. Den Rest, und die üppigen Gewinne der Verleger obendrein, zahlten die Anzeigenkunden.
Die Ära der „tollen Zeitung“ dauerte etwa von 1920 bis 2000 und war gekennzeichnet dadurch, dass Rotationsdruck, Telegraphie und Eisenbahnnetze es relativ billig machten, aktuelle Nachrichten über ein großes Gebiet an eine große Zahl von Lesern zu verteilen, aber umgekehrt nicht so billig, dass das jeder tun konnte. Die Verleger verfügten mit der Wissbegier ihrer Leser über ein knappes Gut, das sie für teures Geld an ihre Anzeigenkunden weiterverkaufen konnten, was wiederum ermöglichte, Expertise auf Uni-Niveau über byzantinische Ikonenmalerei und die Ölpreisdynamik in ihren Redaktionen vorzuhalten und so die Wissbegier der Leser in the first place am Leben zu erhalten.
Das ist bekanntlich vorbei. Das einstmals knappe Gut ist nicht mehr knapp, und deshalb kauft es den Verlegern niemand um einen Preis ab, der hoch genug ist, damit sie sich ihrerseits Byzantinistikexperten und Ölpreisgurus leisten können. Der Byzantinistikexperte muss, wenn er nicht sowieso schon längst gefeuert ist, die Theaterrezension, das Brad-Pitt-Interview, die Fernsehglosse, den Blattmacherdienst und die Rätselecke mitbetreuen und vernachlässigt darüber seine Byzantinistik, und sein nächster Ikonenartikel ist ziemlich oberflächlich, was aber auch für die Theaterrezension gilt, denn der Mann geht eigentlich gar nicht gern ins Theater, aber in diesen schweren Zeiten tut er’s halt, und die Ikonenliebhaber finden seine Texte immer seltener wirklich toll, von den Theater-Aficionados ganz zu schweigen, und beide denken sich erst stillschweigend und dann ganz laut und explizit, dass ihre eigenen Blogs qualitativ eigentlich ganz gut mithalten können, wenn nicht gar überlegen sind, und so geht das ein paar Jahre, und was kommt am Ende dabei raus? Die Frankfurter Rundschau.
Wir sind Duisburg
War die „tolle Zeitung“ gut für die Demokratie? Natürlich, und wie. Schadet es der Demokratie, wenn es sie nicht mehr gibt? Wahrscheinlich. Was folgt daraus? Sehr wenig.
Wenn die „tolle Zeitung“ das ist, was in den 80er Jahren die Steinkohle war, dann ist die Demokratie Duisburg. Natürlich ging es Duisburg vor 40 Jahren besser, und natürlich haben all diejenigen Recht behalten, die nach dem Ende der Steinkohleförderung die gräßlichsten Folgen für die Stadt vorhergesagt hatten. Aber sie ist nun mal zu Ende, die Steinkohle. Jetzt kann man sich streiten, ob man mit ein bisschen besserem Management die Zechen noch ein bisschen länger hätte wirtschaftlich betreiben können, aber am Ende helfen kein Gejammer, keine moralischen Appelle an die Zechenbetreiber und auch keine Subventionen: Irgendwann ist dort unten halt einfach keine Kohle mehr da.
Die Redaktionen, die die „tolle Zeitung“ früher gemacht haben, waren fantastische Aggregate freier und unabhängiger politischer Expertise. Sie haben es möglich gemacht zu vertrauen, dass man von dem, was die Regierung einen glauben machen will, nur das glauben muss, was man auch wirklich glauben kann. Sie waren ein sehr wirkungsvolles Mittel dagegen, dass die Spezialisten und Experten, die Entscheider und Repräsentanten ihren Wissensvorsprung dazu benutzen, sich gegen Kritik und Wettbewerb abzuschotten.
Wenn es sie jetzt nicht mehr gibt, was dann? Dann kommt Duisburg. Ein bisschen Zechentourismus, ein bisschen Dienstleistungsgewerbe, eine ganze Menge Transferleistungen – und viel, viel Arbeitslosigkeit. Manches Neue entsteht in den rauchgeschwärzten Klinkerhallen, viel davon geht schnell wieder ein, und nichts wird jemals auch nur ein Zehntel so viel hermachten wie ein richtiges Stahlwalzwerk.
Aber immerhin, es bewegt sich was. Man kommt so über die Runden, und es geht irgendwie weiter. Und diejenigen, die ein Yogastudio aufmachen oder eine kleine Werbeagentur, wissen auch, dass sie keine Ruhrbarone sind und niemals welche sein werden. Aber es täte ihnen nicht gut, den ganzen Tag darüber zu jammern, und Duisburg täte es auch nicht gut.
Ich zum Beispiel. Ich blogge hier vor mich hin, bastle an kleinen und größeren Projekten, schreibe meine Bücher und, zeitungssentimental wie ich bin, hin und wieder sogar einen Artikel für die FAZ für ein Lausegeld. Ich werde weder reich noch berühmt damit, aber besser als das Los unseres fiktiven Byzantinisten ist es allemal. Ich werde nie die ganz große Schweinerei aufdecken, und den Trend zur Entkoppelung der Entscheidereliten vom Gutheißen der breiten Öffentlichkeit werde ich auch nicht aufhalten. Aber immerhin, ich bin unabhängig und muss vor niemandem Angst haben und kann in meinem kleinen Verfassungsfeld eigene Expertise aufbauen und fremde öffentlich machen, und das ist auch eine Menge wert.
Und deshalb setze ich meine Hoffnung nicht auf den Verleger, der uns die „tolle Zeitung“ auf eigene Kosten einfach schenken, und auch nicht auf den Staat, der sie steuerfinanziert substituieren soll, sondern auf die Autorinnen und Autoren der Frankfurter Rundschau und all der anderen ehemals so tollen Zeitungen, die es ja weiterhin gibt da draußen, mitsamt ihrer ganzen Expertise. Ich hoffe, dass sie einen Weg finden, irgendeinen, und sei er noch so prekär und unkonventionell, ihr Wissen und Können zu bewahren, uns daran teilhaben zu lassen und weiterzuschreiben, notfalls auch Gejammer über das Zeitungssterben, aber noch lieber Berichte und Einordnungen und Einschätzungen über die abwendbaren Katastrophen, mit denen wir es zu tun bekommen.