20. März 2023

Joachim Wieland

Entscheidungsfreudig, aber begründungsschwach

Mangelnde Entscheidungsfreude kann man der CSU nicht vorwerfen. Nur einen Tag nach der Verabschiedung der Wahlrechtsreform im Bundestag hat die Partei beschlossen, das Bundesverfassungsgericht mit dem Ziel anzurufen, die Reform für verfassungswidrig erklären zu lassen. Was aber ist die rechtliche Begründung für die beabsichtigte Klage? Darüber ist bislang nichts zu erfahren. Politische Empörung begründet noch keine Verfassungsklage. Nicht ohne Grund war die bisherige verfassungsrechtliche Diskussion zwar intensiv, hat aber keine Verfassungsverletzung aufgezeigt.

Der Regierungsentwurf des Reformgesetzes sah noch die Beibehaltung der Grundmandatsklausel vor. Die juristischen Berater der Regierungskoalition Jelena von Achenbach, Florian Meinel und Christoph Möllers hatten sie in der Anhörung des Bundestagsausschusses für Inneres und Heimat als für die Glaubwürdigkeit des Entwurfs unabdingbar, aber verfassungsrechtlich nicht für geboten erklärt. Die Chancenverteilung im politischen Wettbewerb könne aber nur dadurch sichergestellt werden, dass die Grundmandatsklausel beibehalten werden. Demgegenüber hatten die Sachverständigen der Union in der gleichen Anhörung die Beibehaltung der Grundmandatsklausel als verfassungsrechtlich nach der Reform nicht mehr haltbar (Philipp Austermann), nicht widerspruchsfrei begründbar (Stefanie Schmahl) und als verfassungswidrige Systemausnahme (Bernd Grzeszick) qualifiziert. Die Grundmandatsklausel sei in dem reformierten Wahlrecht systemfremd und mit der Gleichheit der Wahl unvereinbar, weil sie das Direktmandat vom ansonsten bestehenden Erfordernis der Hauptstimmendeckung löse. Diese Bedenken sind nicht von der Hand zu weisen. Schon für das bislang geltenden Wahlrecht hatte das Bundesverfassungsgericht 1997 die Grundmandatsklausel nur mit erheblichem argumentativem Aufwand zu rechtfertigen vermocht. Ob das Gericht sie in einem konsequent als Verhältniswahl ausgestalteten System noch einmal billigen würde, war jedenfalls nicht sicher. Michl und Mittrop haben zu Recht darauf hingewiesen, dass der Gesetzgeber nach der Verabschiedung der Personenwahl im Wahlkreis bei der Proporzverteilung schwerlich eine Legitimation für die Berücksichtigung von Parteien, die wegen ihres schlechten Abschneidens eigentlich nicht an der Mandatsverteilung teilnehmen, vorsehen könne. Der Gesetzgeber war deshalb gut beraten, das verfassungsrechtliche Risiko, auf das ihn die Sachverständigen in der Anhörung hingewiesen hatten, ernst zu nehmen und die Grundmandatsklausel aus dem Entwurf zu streichen.

Eine verfassungsrechtliche Pflicht zur Beibehaltung der Grundmandatsklausel hatte bislang noch niemand überzeugend begründet. Dominik Rennert sieht nun in diesem Blog ein verfassungsrechtlich ernst zu nehmendes Legitimationsproblem für das Wahlsystem und seine Integrationsleistung, wenn eine Partei, die nur in einem Land antritt und in diesem Land fast alle Wahlkreise gewinnt, mangels einer Grundmandatsklausel oder einer vergleichbaren Regelung nicht in den Bundestag einzieht. Warum soll das aber für eine Verhältniswahl auf Bundesebene gelten? Uwe Volkmann hat ebenfalls in diesem Blog eingeräumt, dass es schwer sei, einen konkreten Verfassungssatz zu benennen, mit dem die Streichung der Grundmandatsklausel nicht vereinbar sei. Er hat aber auf das weithin empfundene Störgefühl hingewiesen, dass sich aus der nicht hinreichenden Repräsentanz einer Partei im Parlament nähre. Auch Maximilian Steinbeis hat beachtliche verfassungspolitische Bedenken, aber keine Gründe für eine Verfassungswidrigkeit der Abschaffung der Grundmandatsklausel formuliert. Demgegenüber hat Christoph Schönberger im Verfassungsblog zu Recht von einem Nachruf ohne Tränen gesprochen, weil die Kritiker keinerlei auch nur von Ferne verfassungsrechtliches Argument gegen die Streichung der Klausel vorbringen könnten. Dem ist zuzustimmen.

Das Wahlrecht muss nicht auf die Strategien der politischen Parteien Rücksicht nehmen, sondern die Parteien müssen ihren Erfolg im geltenden Wahlrecht suchen. Angesichts ihrer starken Stellung in Bayern konnte die CSU in den vergangenen Jahrzehnten als Regionalpartei auf der bundespolitischen Bühne agieren. Das ist keine Selbstverständlichkeit, sondern Ergebnis der Wählerentscheidung, eine Regionalpartei in einem Land so stark zu machen, dass sie als Akteur in der Bundespolitik die Interessen des Landes durchsetzen kann. Das ist der CSU bei der Lenkung von Ressourcen des Bundes nach Bayern seit langem gelungen. Solange die bayerischen Wähler dieses Vorgehen genügend stützen, kann die CSU ihre bundespolitische Rolle weiterspielen. Wenn aber ihr Rückhalt in Bayern dafür nicht mehr ausreicht, muss sie ihre Strategie ändern und sich mit der CDU zusammenschließen. Die Tradition der Fraktionsgemeinschaft im Bundestag spricht seit langem dafür. Der Gesetzgeber ist jedenfalls nicht verpflichtet, für die Perpetuierung der Machtstellung der Regionalpartei CSU in der Bundespolitik zu sorgen. Die Unionsparteien haben selbst noch am 24. Januar 2023 beantragt, die Grundmandatsklausel von drei auf fünf errungene Sitze zu erhöhen. Dieser offensichtliche Versuch, die Privilegierung der CSU zu sichern und zugleich für einen Abschied der Linken aus dem Bundestag zu sorgen, zeigt eine machtpolitische Motivation. Eine Verschleierung machtpolitische Interessen mit Argumenten demokratischer Repräsentation überzeugt nicht. Ein Störgefühl hätte die Beibehaltung der Grundmandatsklausel im neuen System der Verhältniswahl hervorgerufen. Warum sollte in einer Verhältniswahl auf Bundesebene bei einem gleichen Wahlergebnis von 4,9 % eine Partei, die drei Wahlkreise gewonnen hat, in Fraktionsstärke im Bundestag vertreten sein, während eine andere Partei mit der gleichen Zahl von Stimmen, aber weniger als drei Direktmandaten keine Abgeordnete nach Berlin entsenden? Der darin liegende Verstoß gegen die Gleichheit der Verhältniswahl ist kaum zu übersehen. Wir können deshalb mit Spannung auf die verfassungsrechtliche Begründung der angekündigten Klage der CSU warten.

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