Ist es völkerrechtswidrig, die Mobiltelefone der Regierungschefs anderer Länder auszuspionieren?
Abhören ist nicht per se vom Völkerrecht reguliert; es gibt kein explizites Verbot der Spionage. Aber das heißt nicht, dass es erlaubt ist. Aus der Tatsache, dass alle Staaten Spionage betreiben, kann man auch nicht den Schluss ziehen, das sei völkergewohnheitsrechtlich zulässig. Denn die Staaten sind sich bewusst, dass es problematisch ist, was sie da tun. Deshalb tun sie es ja heimlich.
Was könnte denn der Anknüpfungspunkt sein im Völkerrecht, dass solche Praktiken verboten sind?
Es gibt allgemeine Prinzipien des Völkerrechts, die verletzt sein könnten, etwa das Prinzip der staatlichen Souveränität. Eine Facette davon ist die Behandlung innerer Angelegenheiten nach eigenen Vorstellungen. Die interne Kommunikation zwischen Politikern, Amtsträgern und Behörden gehört zu diesen inneren Angelegenheiten. Dieser Aspekt des völkerrechtlichen Souveränitätsgrundsatzes ist verletzt, wenn Amtsträger nicht mehr vertraulich telefonieren können. Ein weiteres Prinzip, das berührt sein könnte, ist die Verteilung staatlicher Zuständigkeit.
Was ist damit gemeint?
Jeder Staat darf prinzipiell nur in seinem Staatsgebiet Hoheitsakte vornehmen. Eine amtlich initiierte Abhörmaßnahme ist ein Hoheitsakt. In der Schweiz ist es sogar ein Straftatbestand, wenn jemand auf schweizerischem Gebiet ohne Bewilligung für einen fremden Staat Handlungen vornimmt, die einer Behörde oder einem Beamten zukommen. Das Völkerrecht erlaubt extraterritoriale Hoheitsausübung aber dann, wenn ein Anknüpfungspunkt zum Staat besteht. Das kann entweder die Person sein, etwa eigene Staatsangehörige im Ausland. In unserem Kontext könnte die Anknüpfung höchstens nach dem Wirkungsprinzip zulässig sein. Ein Sacherhalt, der Auswirkungen innerhalb der USA entfalten könnte, darf möglicherweise von den USA reguliert werden. Hier befürchten die USA terroristische und sonstige kriminelle Angriffe auf den Staat oder seine Bürger, dies könnten Auswirkungen im Sine des Rechts der Zuständigkeitsverteilung sein. Allerdings sind diese Auswirkungen ziemlich hypothetisch und weit entfernt. Diese Art von Wirkungen sind wahrscheinlich nicht vom Wirkungsprinzip gedeckt. Die Abhörmaßnahmen bleiben als extraterritoriale Hoheitsrechtsausübung völkerrechtlich problematisch.
Es gibt den Verdacht, dass die NSA von der amerikanischen Botschaft in Berlin aus operiert. Ist das auch ein Anknüpfungspunkt?
Solche Operationen verletzen das Wiener Abkommen über diplomatische Beziehungen. Darin ist festgelegt, was die Aufgaben von Botschaften sind. Dazu gehört natürlich Informationsbeschaffung. Aber in dem Vertrag heißt es ausdrücklich, dass Informationen nur mit „rechtmäßigen“ Mitteln beschafft werden dürfen. In Deutschland ist das heimliche Abhören von Telefongesprächen ein Straftatbestand, und das Auskundschaften von Staatsgeheimnissen auch. Wenn also tatsächlich die Botschaft involviert war, dann wäre der Bruch des Völkerrechts meiner Ansicht nach eindeutig.
Was sieht es denn auf der Rechtsfolgenseite aus? Könnte man auf dieser Grundlage eine Verurteilung der USA erreichen?
Es gibt keine obligatorische Gerichtsbarkeit im Völkerrecht. Deutschland kann nicht automatisch an ein internationales Gericht gelangen und die USA verklagen. Dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag haben sich die USA nicht allgemein unterworfen.
Gilt das auch für den Fall, dass die Botschaft involviert war?
Viele Signatarstaaten der Wiener Diplomatenkonvention haben ein Zusatzprotokoll unterzeichnet und ratifiziert, das für alle Streitigkeiten über die Diplomatenkonvention die zwingende Zuständigkeit des IGH begründet. Dort sind die USA auch, anders als bei dem parallelen Protokoll zur Konsularkonvention, nach wie vor Mitglied. In diesem Fall könnte Deutschland, das ebenfalls Partei des Protokolls ist, tatsächlich den IGH anrufen, damit dieser eine Verletzung des Diplomatenrechtskonvention beurteilt.
Der Freiburger Historiker Josef Foschepoth behauptet, die NSA-Abhörmaßnahmen seien allesamt durch Abkommen gedeckt, die Deutschland im Zuge der NATO-Truppenstationierung in den 1950er und 60er Jahren mit den USA geschlossen hat. Stimmt das?
Ich glaube nicht, aber das ist sehr schwierig zu sagen. Foschepoth nennt drei Abkommen, zwei davon sind nicht öffentlich, aber in Foschepoths dokumentarischem Anhang abgedruckt. Ich konnte diesen komplexen Abkommen nicht ohne weiteres entnehmen, dass sie die Abhörmaßnahmen rechtfertigen. Es gibt einen Austausch diplomatischer Noten von 1968 in Bezug auf die Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs. In diesem Notenaustausch wird ein angebliches Völkerrechtsprinzip bekräftigt, nach dem jeder militärische Oberbefehlshaber im Fall einer unmittelbaren Bedrohung seiner Streitkräfte die angemessenen und notwendigen Maßnahmen ergreifen darf, um die Gefahr zu beseitigen. Das heißt, hier sind schon wieder Kautelen eingebaut: nur bei unmittelbarer Gefahr, und es sind nur angemessene und notwendige Maßnahmen erlaubt. Diese Grenzen sind ähnlich formuliert wie die Bedingungen für die Zulässigkeit, Menschenrechte einzuschränken. Sie geben auf keinen Fall einen Blankoscheck. Die NSA müsste erst einmal darlegen können, dass diese Voraussetzungen vorliegen.
Die Überwachung des Kanzlerhandys ist die eine Sache. Dass wir alle fortlaufend ausspioniert werden, eine andere. Was hat denn das Völkerrecht zu der allgemeinen Abhörpraxis der NSA in Deutschland zu sagen?
Es gibt ein Menschenrecht auf Schutz der Privatsphäre. Auch Amtsträger wie Kanzlerin Merkel genießen natürlich Menschenrechte. Sie müssen sich zwar stärkere Einschränkungen gefallen lassen, weil sie im öffentlichen Leben stehen, aber sie sind natürlich nicht vogelfrei. Auch die Kanzlerin, selbst wenn sie ihr Diensthandy benutzt, hat ein Recht auf Privatsphäre.
Sind die USA völkerrechtlich verpflichtet, das Recht auf Privatsphäre zu achten?
Das sind sie. Sie haben den Pakt der Vereinten Nationen über bürgerliche und politische Rechte ratifiziert, und der enthält in Artikel 17 dieses Recht auf Privatsphäre. Die USA haben allerdings dabei eine Erklärung hinterlegt, dass dieser Pakt nicht „self-executing“ sein soll, also nicht vor US-Gerichten eingeklagt werden kann. Aber das ändert nichts daran, dass die USA als Staat daran gebunden sind.
Gilt diese Verpflichtung nicht nur auf dem Territorium der USA?
Grundsätzlich ja. Der Pakt schützt aber auch Personen, die unter der Jurisdiktion der USA stehen, und die kann auch außerhalb des Staatsgebietes bestehen. Jurisdiktion setzt dann aber Kontrolle über Personen voraus. Der Standardfall ist zum Beispiel, dass jemand im Ausland oder auf hoher See festgenommen wird, etwa bei Piraterieverdacht auf einem Polizeischiff. Cyber-Kontrolle hat natürlich eine andere Qualität. Es ist noch nicht entschieden, ob das auch Kontrolle im Sinne der extraterritorialen Anwendung der Menschenrechte begründet. Ich würde sagen, im Cyber-Age müsste das denkbar sein.
Wenn ja, ist mein Menschenrecht auf Privatsphäre verletzt, wenn die NSA mich abhört?
Das Recht kann eingeschränkt werden, wenn eine rechtliche Grundlage besteht, ein legitimes Ziel verfolgt wird und die Einschränkungen verhältnismäßig sind. Eine rechtliche Grundlage besteht, entweder im US-Recht oder sogar möglicherweise sogar in Form dieser Verträge mit Deutschland. Ein legitimes Ziel ist die Terrorbekämpfung sicherlich auch. Aber ich würde – soweit ich die Tatsachen überblicke – sagen, einfach alles zu erfassen und zu scannen, ist zu pauschal, mehr als notwendig, um die Gefahr wirksam zu bekämpfen, und daher unverhältnismäßig.
Gibt es eine rechtliche Verpflichtung der deutschen Regierung, mich vor solchen Eingriffen zu schützen, selbst wenn dies auf Kosten der diplomatischen Beziehungen zu den USA gehen würde?
Ja. Deutschland ist an die Grundrechte aus dem Grundgesetz und an die Europäische Menschenrechtskonvention gebunden. Daraus folgt prinzipiell auch eine Schutzpflicht. Und die könnte eventuell dazu führen, dass Deutschland zum Vorgehen gegen die USA verpflichtet ist. Staaten dürfen sich grundsätzlich nicht unter Berufung auf ihre völkerrechtlichen Bindungen, etwa wegen Geheimabkommen aus den 1960er Jahren, von ihren Pflichten etwa aus der EMRK lösen. Es gibt keine Flucht ins Völkerrecht.
Kann man spezifizieren, was aus dieser Pflicht, gegen die USA vorzugehen, konkret für Maßnahmen folgen würden?
Nicht unbedingt. Es gibt zum Beispiel einen Fall, der vom Straßburger Menschenrechtsgerichtshof entschieden wurde, wo jemand in Transnistrien inhaftiert wurde, also dem Teil Moldawiens, der von Resten der Sowjetarmee besetzt ist. Da hat der Gerichtshof gesagt, Moldawien müsse diplomatische Schritte ergreifen. Diplomatisch heißt: Verhandlungen. Spezifischer kann man das nicht fassen. Die Maßnahmen dürfen einerseits dem Staat keine übermäßige Bürde auferlegen, sie müssen andererseits wirksam sein und dürfen ein gewisses Minimum nicht unterschreiten. Einmal einen Brief zu schreiben wird vielleicht nicht ausreichen …
… oder einmal einen Innenminister nach Washington schicken.
Genau.