28. November 2017

Thorsten Kingreen

Es lebe die Republik!

In einem politischen System, das sich aufgrund historischer Erfahrungen in besonderer Weise der Stabilität verschrieben hat, erzeugt das Scheitern der Jamaika-Sondierungen eine gewisse Unsicherheit. Wir suchen nach einem „Abteilungsleiter Befindlichkeit“, der uns einfach einmal mit der notwendigen Autorität von Person oder Amt sagt, wie es weitergehen soll. Im antipolitischen Affekt und in neomonarchischer Verklärung richten sich daher seit Tagen alle Augen auf einen: den Bundespräsidenten. Möge er die gespaltene Gesellschaft und die untereinander zerstrittenen Parteien wieder zusammenführen, am besten noch durch eine Rede an die Nation, mag nicht nur mancher Königstreue denken. Seit Tagen sprechen die Vertreter der Parteien im Schloss Bellevue vor, wo sie, wie die SPD, urplötzlich ihren politischen Aggregatzustand verändern: Wenn es der Bundespräsident so will, dann sollte man ja vielleicht doch mitregieren, zumindest ein bisschen. Eine kühne Idee, auf die jedenfalls der SPD-Vorsitzende ohne den Bundespräsidenten offenbar nicht gekommen wäre.

Nun ist der Amtsinhaber eine respektable und weithin respektierte Persönlichkeit, dem wir das Land gerne anvertrauen. Aber die öffentliche Fokussierung auf den Bundespräsidenten steht doch in einem gewissen Missverhältnis zu seinen bescheidenen verfassungsrechtlichen Zuständigkeiten. Es hilft, wenn wir uns nach 50 Tagen Jamaika-Träumen wieder auf unseren eigenen Staatsnamen besinnen. Deutschland ist eine Republik. Im Kreis der anderen Verfassungsprinzipien in Art. 20 unseres Grundgesetzes ist die Republik ein Mauerblümchen, weil sich ihr Aussagegehalt weitgehend darauf beschränkt, dass die Bundesrepublik keine Monarchie ist. Es lohnt sich aber, das unter den gegebenen Umständen noch einmal in Erinnerung zu rufen. Der Monarch verkörperte die Einheit des Staates und der Gesellschaft, seine Herrschaftsansprüche hat er früher auch gerne von Gottes Gnaden abgeleitet. Französische und amerikanische Revolution haben dieses monarchische Legitimationskonzept zwar erschüttert, aber diese Entwicklungen haben Deutschland erst über 100 Jahre später erreicht, und das auch nur in homöopathischer Verdünnung. An die Stelle von Kaiser Wilhelm rückte in der Weimarer Republik ein unmittelbar vom Volk gewählter Reichspräsident, der 1930 faktisch die Funktion des Gesetzgebers übernahm und damit in verhängnisvoller Weise der Diktatur den Weg ebnen konnte.

Das Grundgesetz hat sich davon distanziert, ohne dass es sich ganz vom Präsidentenamt abwenden mochte. Der republikanische Bundespräsident wird aber nicht mehr vom Volk gewählt, und er hat überwiegend nur noch repräsentative Funktionen, sieht man einmal von seiner (verfassungspolitisch m. E. ziemlich überflüssigen) Befugnis, die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen zu prüfen, ab. Trotzdem bezeichnen wir ihn in monarchischer Tradition immer noch als Staatsoberhaupt (ein Begriff, den das Grundgesetz nicht verwendet) und verbinden mit ihm allerlei Wünsche nach Integration, Harmonie und Stabilität. Die verfassungsrechtliche Funktion des Bundespräsidenten ist indes viel bescheidener, auch in der jetzigen Situation. Anders als noch in der Weimarer Zeit beschränkt sie sich darauf, dem Bundestag einen Kandidaten für die Wahl des Bundeskanzlers vorzuschlagen. Diesen Vorschlag macht er nicht aus monarchischer Machtvollkommenheit, sondern unter Berücksichtigung der politisch-parlamentarischen Willensbildung und in der bisherigen parlamentarischen Praxis erst „auf Zuruf“. In der Kanzlerwahl verwirklicht sich dann die konsequente Parlamentarisierung der Regierung: Ohne Mitwirkung des Bundespräsidenten wählt allein der Bundestag den Bundeskanzler, und für den zweiten Wahlgang entscheidet nur er darüber, wer sich zur Wahl stellen soll; der Bundespräsident hat noch nicht einmal ein Vorschlagsrecht. In beiden Wahlgängen bedarf es der Mehrheit der gesetzlichen Mitglieder des Bundestages (derzeit also 355), die ein Kandidat auch dann erreichen kann, wenn zuvor Sondierungen oder Koalitionsverhandlungen gescheitert sind. Abgeordnete, die nach dem ersten Blick in die Post-Jamaika-Umfragen vielleicht gerade kein Interesse an Neuwahlen haben und mit der Amtsinhaberin eigentlich ganz gut leben können, könnten für die erforderlichen Stimmen sorgen. Der Bundespräsident muss den Gewählten dann ohne eigenes Mitgestaltungsrecht ernennen. Er kommt erst wieder ins Spiel, wenn der vorgeschlagene Kandidat im dritten Wahlgang nicht die erforderliche Mitgliedermehrheit bekommt. Aber auch dann wird er seine Entscheidung – Ernennung des Gewählten oder Auflösung des Bundestages – nur unter Berücksichtigung des politischen Willens der vom Volk gewählten Parlamentarier treffen. Und wenn der Bundestag mit dem ernannten (Minderheits-)Kanzler nicht einverstanden ist, kann er später jederzeit und ohne Einschaltung des Bundespräsidenten über ein konstruktives Misstrauensvotum einen anderen Kanzler wählen.

Nach 50 Tagen Jamaika-Verhandlungen in fensterlosen Räumen und auf zugigen Balkonen schlägt jetzt daher endlich die Stunde des Bundestages, von dem man seit seinem Zusammentritt vor einem Monat fast nichts mehr gehört hat. Die gewählten Parlamentarier sollten sich schon um ihrer republikanischen Selbstachtung willen von einer neomonarchischen Retroromantik und einem falsch verstandenen Stabilitätsdogma distanzieren. Allein ihnen weist das Grundgesetz der Republik die Zuständigkeit und die Verantwortung für die Entscheidung zu, wie es jetzt weitergeht. Warum sollte sich die SPD jetzt nur wegen der warmen Worte des Bundespräsidenten wieder in eine Große Koalition quälen, die sie nicht will und die eigentlich auch niemand wirklich wollen kann? Auch die F.D.P möchte lieber nicht als falsch regieren (was insbesondere die Freunde der europäischen Integration mit Erleichterung zur Kenntnis nehmen werden). Zugleich gibt es aber zwei Parteien, die gerne regieren möchten (CDU/CSU und DIE GRÜNEN). In den anstehenden großen außen- und europapolitischen Debatten können sie sich auf die SPD verlassen, die ihrerseits Oppositionspartei spielen könnte, soweit es um die Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik geht. Schnell wird sich dann auch zeigen, wo die Konstruktiven und wo die Destruktiven sitzen – ein nicht ganz unwichtiges Signal für die nächsten Wahlen.

Die gewählten Abgeordneten könnten also in ihrer (je nach Wahlgang) absoluten oder relativen Mehrheit zu dem Schluss kommen, dass eine sog. „Minderheitsregierung“ vielleicht gar nicht so schlimm ist. Wenn sich eine Regierung nicht immer auf die gleichen Mehrheiten verlassen kann, kann das die Lebhaftigkeit in die parlamentarischen Debatten zurückbringen, die diese in den vergangenen Jahren verloren haben. Fraktions- und Koalitionsdisziplin haben diese Debattenkultur in den vergangenen Jahren weitgehend unterbunden; wurden sie ausnahmsweise einmal aufgehoben, war fast immer von „Sternstunden des Parlaments“ die Rede.

Es ist daher an der Zeit, dass das Parlament seinem Namen wieder alle Ehre macht. Für diese Erkenntnis brauchen wir keinen Befindlichkeiten auslotenden Bundespräsidenten, sondern ebenso fantasievolle wie kompromissbereite Parlamentarier, die nicht nur Steigbügelhalter einer Regierung sind. Es lebe die Republik!

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