Das Bundesverfassungsgericht kann ja gerne Übergangsfristen einräumen, wenn es findet, dass ein verfassungswidriger Zustand aus irgendwelchen übergeordneten Gründen noch eine Weile fortbestehen soll. Aber wenn dieser Zustand auch noch europarechtswidrig ist, dann muss er aufhören. Sofort. Nicht irgendwann später.
Das ist die Ansage des heutigen Urteils des Europäischen Gerichtshofs zum Glücksspielmonopol. Sie richtet sich zum einen an die Länder, die ihr Monopol weiter mit Zähnen und Klauen gegen private Wettbewerber verteidigen. Sie richtet sich zum anderen an das Bundesverfassungsgericht: Eure Sitten, rechtswidrige Regelungen aus Nützlichkeitserwägungen heraus übergangsweise am Leben zu lassen, so lautet die Botschaft, teilen wir nicht.
Das Bundesverfassungsgericht hatte 2006 das Glücksspielmonopol der Länder für verfassungswidrig erklärt, weil diese nicht die aggressive Schließung privater Wettvermittler damit rechtfertigen können, das sei zum Schutz der Spielsüchtigen nötig, wenn sie gleichzeitig diese Spielsüchtigen mit allen Mitteln moderner Werbestrategie an die eigenen Spieltische lockten. Der Wettvermittler, der dieses Urteil errungen hatte, ging allerdings leer aus: Die verfassungswidrigen Regelungen seien einstweilen weiter gültig, um dem Gesetzgeber Gelegenheit zur Reparatur zu geben, schrieb der Erste Senat lapidar. Seine Verfassungsbeschwerde sei daher zurückzuweisen.
Ersatz-Gesetzgeber
Die Karlsruher Sitte, dem Gesetzgeber Übergangsfristen einzuräumen, ist anderen Verfassungskulturen kaum begreiflich zu machen. Und wenn man genauer hinschaut, ist das tatsächlich höchst sonderbar: Ein Gericht ist doch dazu da, einen Fall am Maßstab des Rechts zu messen, hier also ein Gesetz am Maßstab der Verfassung. Aber es darf das Gesetz nicht selbst gestalten, es gleichsam passend machen. Das ist Job und Verantwortung des Gesetzgebers, der zu eben diesem Zweck schließlich von uns allen gewählt und demokratisch legitimiert wird.
Nun braucht man da auch nicht doktrinär zu werden. Natürlich gibt es Fälle, wo es völlig widersinnig wäre, ein Gesetz für nichtig zu erklären und einen völlig regelungsfreien Zustand herbeizuführen, der womöglich noch viel verfassungswidriger wäre als der zunächst angegriffene. Der EuGH ist solchen Fällen selber ja auch schon begegnet.
Aber erstens belässt es das BVerfG ja in der Regel nicht mit der Übergangsfrist, sondern gibt dem Gesetzgeber eine ausführliche Reparaturanleitung mit auf den Weg: So muss das Gesetz aussehen, dann sind wir zufrieden. Alles natürlich bloßes Obiter Dictum und damit unverbindlich, aber doch mit der ganzen Autorität des Bundesverfassungsgerichts ausgesprochen.
Und zweitens gibt es da noch jemanden, der leicht übersehen wird, nämlich die Kläger. Die haben unter erheblichen Mühen und Kosten ihr Verfahren bis nach Karlsruhe getrieben. Und dann bekommen sie Recht. Und verlieren trotzdem.
Es kann überhaupt nicht schaden, wenn die Verfassungsrichter künftig dazu getrieben sein werden, mit Übergangsfristen etwas sparsamer umzugehen. Schon um zu vermeiden, dass ihnen so ein Urteil wie das des EuGH heute widerfährt.
Heuchelei vom Widerlichsten
Übrigens: Wer wissen will, was es mit dem Reizthema Glücksspielmonopol auf sich hat, dem empfehle ich den Besuch dieser besonders hübschen Website hier.
Da sieht man ein Plakatmotiv, dem man in letzter Zeit auch im Berliner Nahverkehr an allen Ecken begegnet: Die Spielbank Berlin, Konzessionär des Berliner Senats und jährlicher Ablieferer von erklecklichen Millionensümmchen, hat einen Sport-Star gebucht, der sich theatralisch die Brust aufreißt, weil ein „Zocker in ihm“ steckt. Wer in einem Berliner Bus unterwegs ist, das Plakat sieht und einen Zockerherz in sich pochen spürt, der wird dem Appell sicherlich gerne folgen. Das heißt, er wird die Spielbank aufsuchen und dort zocken, bis der Arzt kommt.
Aber man muss natürlich auch das Kleingedruckte lesen. „Lass ihn raus“, steht da erst mal. Klar, rauslassen, zocken gehen, wie gesagt. Aber Moment, das geht ja noch weiter… Oh! „Überlass ihm nicht die Kontrolle“, steht da. „Spielen mit Verantwortung“. Du liebe Zeit! Das ganze ist als Warnung gemeint. Wer hätte das gedacht? Vor den Gefahren der Spielsucht! So ein dummes Missverständnis aber auch…
Das eigentlich Überraschende daran ist, dass das staatlich konzessionierte Zock- und Glücksspielgewerbe glaubt, mit solch widerlicher, vor Zynismus triefender Heuchelei davonkommen zu können.
Das Glücksspielmonopol in Deutschland ist schon lange zu nichts anderem mehr da, als den Ländern am überschuldeten Haushalt vorbei neue Einnahmetöpfe zu bescheren und so ihre politische Gestaltungsspielräume zu erweitern. Dass das Verbot privater Glücksspielbetreiber nichts als den Schutz vor Kriminalität und Spielsucht im Auge hat, glaubt kein Mensch und widerlegt sich durch die weiter intensive Werbung der staatlichen Glücksspielbetreiber von selbst.
Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts hat nicht mehr bewirkt, als die Monopolisten dazu zu bewegen, Kreide zu fressen und die Werbung um die Zockerherzen mit allerlei Geflöte über Verantwortung und Suchtprävention zu überpflastern.
