EU-Mitgliedsstaaten müssen sich nicht vertragen. Aber ihr Streit darf nicht so weit gehen, dass sie nicht mehr miteinander reden.
Zu diesem Schluss kommt Generalanwalt Yves Bot in seinen heute veröffentlichten Schlussanträgen in einem Fall, der sich – jawohl – um Ungarn dreht.
Genauer gesagt dreht er sich um den ehemaligen Staatspräsidenten László Sólyom: Dieser wollte 2009 in dem slovakischen Städtchen Komárno, in dem viele ethnische Ungarn wohnen, eine Rede halten, und zwar gegen den heftigen Protest der slovakischen Staatsführung. In der Slovakei gibt es eine große magyarische Minderheit, und in Ungarn sehen dies große Teile der Bevölkerung mit den heftigsten irredentistischen Schmerzen, und so lag es aus slovakischer Sicht nicht fern, die Pläne des Präsidenten als panmagyaristischen Angriff auf die eigene territoriale Integrität zu werten.
Jedenfalls erließ die Slovakei kurzerhand ein Einreiseverbot gegen das ungarische Staatsoberhaupt. Das ist für sich genommen schon ein ziemlich beispielloser Vorgang in der EU. Kaum weniger ungewöhnlich war die Reaktion Ungarns, die ein Vertragsverletzungsverfahren gegen den Nachbarstaat beantragten – was es in der Geschichte der EU erst fünfmal gab, wie der EuGH in seiner Pressemitteilung nicht hervorzuheben versäumt.
Die Slovakei hatte sich bei dem Einreiseverbot auf berufen, dass die Freizügigkeitsrichtlinie Ausnahmen bei Gefahr für die öffentliche Sicherheit erlaube. Das findet Generalanwalt Bot übertrieben: Wenn ein Staatsoberhaupt in offizieller Funktion ins Ausland reist, dann macht er nicht von seiner Freizügigkeit als Unionsbürger Gebrauch, sondern dann ist das ein völkerrechtlicher Vorgang und damit nichts, was die EU etwas anginge.
Das, so Bot weiter, hat aber seine Grenzen:
Allerdings dürfen die Mitgliedstaaten ihre Zuständigkeit im Bereich der Diplomatie, wie jede bei ihnen verbliebene Zuständigkeit, nicht in einer Weise ausüben, die zu einem dauerhaften Bruch der diplomatischen Beziehungen zwischen zwei Mitgliedstaaten führen könnte. Ein solcher Bruch wäre in der Tat nicht mit dem Integrationsprozess vereinbar, der nach dem Wortlaut der Präambel des EU-Vertrags auf die „Schaffung einer immer engeren Union der Völker Europas“ gerichtet ist, und würde ein Hindernis für die Verwirklichung der wesentlichen Ziele der Union, darunter das der Förderung des Friedens, darstellen.
Aber diese Grenze ist erst erreicht, wenn es um den Abbruch der diplomatischen Beziehungen geht. Das verstoße gegen die
von ihnen eingegangene(…) Verpflichtung, gutnachbarliche Beziehungen zu unterhalten, die ein wesentlicher Punkt ihrer Entscheidung, der Union beizutreten, ist, (und) fällt unter das Unionsrecht, nicht zuletzt deshalb, weil die Mitgliedstaaten nach Art. 4 Abs. 3 Unterabs. 3 EUV alle Maßnahmen unterlassen müssen, die die Verwirklichung der Ziele der Union gefährden könnten.
Das sei hier aber nicht passiert, und deshalb, so Bot, könne von einer Vertragsverletzung keine Rede sein.
Der Vorgang liegt zeitlich vor der Machtergreifung der Orbán-Partei Fidesz, die kam erst im April 2010 zu ihrer Zweidrittelmehrheit. Sólyom gehört zwar auch zum konservativen Lager und war 2005 auf Betreiben der Fidesz zum Präsidenten gewählt worden, aber Orbán war er viel zu unbequem. Ruhm hat er sich hauptsächlich als Präsident des ungarischen Verfassungsgerichts erworben. Er ist tatsächlich einer der Schöpfer der (bis 31.12.2011 geltenden) Verfassungsordnung des demokratischen Ungarn.
Die Leute, die jetzt in Budapest das Sagen haben, sind ganz andere Kaliber. Um so mehr kann man sich vorstellen, was passieren kann, wenn einer dieser Herrschaften auf die Idee verfällt, den slovakischen Nachbarn mal zu zeigen, wo der großungarische Hammer hängt. Insofern sind Bots Warnungen vielleicht doch nicht nur von akademischer Bedeutung.
Foto: Hoszi, Flickr Creative Commons