5. November 2019

Mathias Hong

Existenzminimum, Menschen­würde und Verhältnis­mäßigkeit

Zum Urteil des BVerfG zu den Hartz-IV-Sanktionen

1. Wie sollen die Verankerung des Existenzminimums in der Menschenwürde und eine Verhältnismäßigkeitsprüfung zusammengehen? Alexander Thiele hat die naheliegenden grundrechtsdogmatischen Fragen, die das heutige Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu den Hartz-IV-Sanktionen aufwirft, bereits gestellt: Wenn das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums „in der Menschenwürde wurzelt und daher ‘dem Grunde nach unverfügbar’ ist“, wie das Gericht bekräftigt – muss dann nicht jede Kürzung, jedenfalls aber eine Kürzung auf Null „stets unzulässig sein“? Und macht das Urteil, indem es solche Kürzungen jedenfalls unter strengen Voraussetzungen doch akzeptiert, nicht „zumindest partiell“ Eingriffe in die Menschenwürde „einer Rechtfertigung (unter strenger Beachtung der Verhältnismäßigkeit) zugänglich“? 

2. Ich würde diese Fragen, so berechtigt sie sind, im Ergebnis verneinen: Nein, dass das Grundrecht (auch) in der absolut geschützten Menschenwürde verankert ist, heißt noch nicht, dass es insoweit (seinem Gewährleistungsgehalt nach) auch einen von eigenen Existenzsicherungsmöglichkeiten unabhängigen Anspruch auf ein bedingungsloses Grundeinkommen gewährleisten muss. Und nein, das Urteil stellt im Ergebnis auch nicht die Menschenwürde selbst unter den Vorbehalt einer Rechtfertigung nach Maßgabe einer Verhältnismäßigkeitsprüfung – auch wenn Thiele zuzugestehen ist, dass es so gelesen werden kann (und im Schrifttum sicher teils auch so gelesen werden wird).

Die Frage, ob die Menschenwürde es gebietet, das Existenzminimum auch unabhängig von eigenen Möglichkeiten der Existenzsicherung staatlich zu gewährleisten, war in den bisherigen Entscheidungen des Gerichts noch nicht aufgeworfen worden (zu dieser Rspr. hier, S. 582 ff.; zur Rspr. zur Schutzpflicht für die Menschenwürde: S. 538 ff.). Das Gericht verneint diese Frage jetzt im Ergebnis (vgl. auch Rn. 30: der Gesetzgeber ist nach Art. 1 I i.V. mit Art. 20 I GG „verpflichtet, die menschenwürdige Existenz jederzeit realistisch zu sichern, wenn Menschen dies selbst nicht können“). 

Es grenzt dadurch die Reichweite des in der Menschenwürde verankerten Gewährleistungsgehalts des Grundrechts näher ein, ohne dadurch jedoch in Frage zu stellen, dass das Grundrecht, soweit es in der Menschenwürde verankert ist, keiner Relativierung zugänglich ist; es hält insbesondere auch fest, dass sich das Grundrecht „nicht in einen ‘Kernbereich’ der physischen und einen ‘Randbereich’ der sozialen Existenz aufspalten“ lässt (vgl. Rn. 119). 

3. Art. 1 I GG schließt nach dem Urteil aber auch solche „Mitwirkungspflichten aus, die auf eine staatliche Bevormundung oder Versuche der ‘Besserung’ gerichtet sind“ (vgl. Rn. 127 und den Verweis auf die dortigen „Anforderungen aus Art. 1 Abs. 1 GG“ in Rn. 141); diese sind (kategorisch) illegitime Zwecke solcher gesetzlichen Mitwirkungspflichten (vgl. zu Zweck-Mittel-Verboten als Grundlage grundrechtlicher Menschenwürdegehalte hier, S. 655 ff.).

Das Gericht verweist dafür auf die historische Entwicklung (Rn. 5-7), in der „ab 1933 zahlreiche Städte die Internierung“ von Menschen praktizierten – „in bereits existierenden Arbeitshäusern oder, als ‘Arbeitsscheue’, in speziellen ‘Lagern für geschlossene Fürsorge’, die später als Konzentrationslager betrieben wurden“ (Rn. 7, unter Verweis auf „Rudloff, in: Hockerts, Drei Wege deutscher Sozialstaatlichkeit, 1998, S. 191 <200 f. m.w.N.>; Stolleis, Geschichte des Sozialrechts in Deutschland, 2003, S. 188 f.“).

4. Unabhängig davon, ob man dieser (eingrenzenden) Interpretation der Menschenwürde durch das Urteil zustimmt, sollte (wie stets) der Streit um die Reichweite eines abwägungsfesten Rechts von einer Infragestellung seiner Abwägungsfestigkeit selbst sorgfältig unterschieden werden (dazu näher hier). 

Thiele ist freilich darin beizupflichten, dass im Urteil „nicht völlig klar“ wird, wie sich die Verankerung in der Menschenwürde und die (weiterreichenden) Verhältnismäßigkeitsanforderungen zueinander verhalten.

Das Urteil deutet zunächst die Mitwirkungspflichten als eine Beschränkung der Handlungsfreiheit (also des Art. 2 I GG) (Rn. 128). Soll die Rechtfertigungsprüfung nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes sich also (nur) auf diese Beschränkung der Handlungsfreiheit beziehen? Andererseits stellt jedoch der Urteilstenor (zu 1., vor Rn. 1) eine Verletzung von Art. 1 I i.V. mit Art. 20 I GG fest (und nicht von Art. 2 I GG), so dass entweder doch nicht die Handlungsfreiheit als verletzt angesehen oder aber in der Verletzung der aus der Handlungsfreiheit folgenden Anforderungen zumindest mittelbar auch eine Verletzung des Grundrechts aus Art. 1 I i.V. mit Art. 20 I GG gesehen wird.

5. Dafür, dass (auch) dem Grundrecht aus Art. 1 I i.V. mit Art. 20 I GG (über seine Verankerung in der Menschenwürde hinausgehende) Verhältnismäßigkeitsanforderungen entnommen werden, spricht außerdem auch die von Thiele zu Recht hervorgehobene Stelle, an der das Gericht die besondere Strenge dieser Anforderungen gerade damit begründet, dass die „zur Durchsetzung der Mitwirkungspflichten“ geminderten Leistungen existenzsichernden Charakter haben (Rn. 132).

Das Urteil spricht dort von einem „unübersehbaren Spannungsverhältnis zur Existenzsicherungspflicht des Staates“ und führt aus, dass Bedürftige in der Zeit der geminderten Leistungen „tatsächlich nicht“ erhalten, „was sie zur Existenzsicherung benötigen, ohne selbst unmittelbar zur Existenzsicherung in der Lage zu sein“: „Der Gesetzgeber enthält vor, was er“ nach Art. 1 I i.V. mit Art. 20 I GG „zu gewährleisten hat; er suspendiert, was Bedürftigen grundrechtlich gesichert zusteht, und belastet damit außerordentlich“ (Rn. 132). 

Damit wird das grundrechtlich (prima facie) Gesicherte, aber nach Maßgabe einer Verhältnismäßigkeitsprüfung doch Suspendierbare (jedenfalls auch) deutlich aus dem Grundrecht aus Art. 1 I i.V. mit Art. 20 I GG selbst abgeleitet. 

6. Gleichwohl muss man dadurch nicht die Menschenwürde selbst unter Verhältnismäßigkeitsvorbehalt gestellt sehen, deren Unantastbarkeit das Urteil ja im Gegenteil betont (vgl. Rn. 119, 157). Näher liegt es, in diesen weitergehenden Anforderungen, wenn sie nicht Art. 2 I GG zugeordnet werden, eine Ausprägung des Sozialstaatsprinzips aus Art. 20 I GG zu sehen, das der Gesetzgeber nach dem Urteil ja „mit der Entscheidung für den Nachranggrundsatz“ ausgestaltet (vgl. Rn. 125). 

Dem Grundrecht würden danach zwei zu unterscheidende Gehalte entnommen: Ein in der Menschenwürde selbst verankertes, dem Grunde nach unverfügbares Recht darauf, dass die Hoheitsgewalt ein menschenwürdiges Existenzminimum gewährleistet, „wenn Menschen dies selbst nicht können“ (vgl. Rn. 30). Und ein (nicht aus der Menschenwürde, sondern aus dem Sozialstaatsprinzip folgendes) Recht darauf, dass der Gesetzgeber das von ihm konkretisierte Existenzminimum auch unter Verweis auf eigene Existenzsicherungsmöglichkeiten (nach dem Nachranggrundsatz) nur nach Maßgabe einer strengen Verhältnismäßigkeitsprüfung vorenthalten darf.

7. Ein in der unantastbaren Menschenwürde verankerter und deshalb nicht (auch „migrationspolitisch nicht“, vgl. BVerfGE 132, 134 [173] – Asylbewerberleistungsgesetz [2012]) relativierbarer Anspruch darauf, dass ein Existenzminimum hoheitlich gesichert wird, behält auch dann, wenn er „nur“ greift, soweit Menschen dies selbst nicht können, ein kaum zu unterschätzendes menschenrechtliches Sprengpotential.

Der Gedanke eines Menschenrechts auf ein Existenzminimum weist, auch wenn ein entsprechender Verfassungsanspruch auf Menschen beschränkt bleibt, die sich in Deutschland aufhalten, unweigerlich auch über die Grenzen des Nationalstaats hinaus. Er bildet damit eines der zentralen Gerechtigkeitsprobleme der Gegenwart verfassungsrechtlich ab. Angesichts der gewaltigen Wohlstandskluft unter den Nationen der Welt setzt er das System der nationalstaatlichen Abschottung schon jetzt unter einen starken menschenrechtlichen Rechtfertigungsdruck, der in Zukunft noch anwachsen wird. Auch legt er staatliche Achtungs- und Schutzpflichten in Wirtschafts-, Entwicklungs- und Außenpolitik nahe, etwa mit Blick auf den ungehinderten Zugang der Weltbevölkerung zu existenznotwendigen Ressourcen wie Medikamenten oder Wasser (vgl. dazu auch hier, S. 586 f.) – oder auf die Folgen der drohenden Klimakatastrophe. Nicht zuletzt auch deshalb bleibt es bemerkenswert, dass das Bundesverfassungsgericht diesen Anspruch in ständiger Rechtsprechung in der Menschenwürde begründet sieht – bei allen grundrechtsdogmatischen Schwierigkeiten, die seine Rekonstruktion bereitet und vermutlich auch weiter bereiten wird.

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