9. April 2020

Heiko Sauer

Expert*innen in der Krise

Die verfassungsrechtswissenschaftliche Begleitung der Corona-Krise als Metathema über zahlreichen Posts zu einzelnen Rechtsfragen ist ein wichtiges Thema für diesen Blog. Ich möchte hiermit zur Herangehensweise medial wie nie gefragter Expert*innen – täglich muss ja eine Vielzahl von Sondersendungen bestückt werden – drei kritische Beobachtungen anbringen. Diese sind notwendig generalisierend, können also natürlich nicht jeder einzelnen Äußerung gerecht werden.

Verzerrtes Politik(er*innen)bild

In vielen Mahnungen oder auch Beschwörungen wird, mal mehr, mal weniger explizit, ein Politikbild transportiert, das die Realität weder in der Krise noch überhaupt zutreffend wiedergibt. Sehr häufig wird ein demokratischen Grundsätzen entsprechender Diskurs angemahnt. Denkverbote soll es nicht geben! Die Politik wird eindringlich dazu aufgerufen zu bedenken, dass die Schwierigkeit der Corona-Krise gerade darin liege, dass gesundheitliche, wirtschaftliche, soziale und viele andere Aspekte gleichzeitig zu bedenken seien – dass also die Rationalitäten unterschiedlicher Systeme von einer dominanten Systemrationalität überspielt zu werden drohten. Wer das hört, muss doch, wüsste man es nicht besser, davon ausgehen, dass die Politik solcher Hinweise dringend bedürftig ist. Es werden mit anderen Worten viele unbestreitbare Offensichtlichkeiten mit dem Tremolo der gerechten Mahnung kundgetan, als würde alles noch schlimmer, wenn sie nicht endlich erhört werden würde. In Zeiten, in denen das Institutionenvertrauen der Bürger*innen immer wichtiger wird, das im demokratischen Verfassungsstaat natürlich nie ein blindes sein darf, ist das teilweise subkutan vermittelte Bild dessen, was in der Politik so geschieht, mit Blick auf die erdrückende Entscheidungsverantwortung in der Praxis nicht immer ganz fair.

Komplexität nicht reduzieren

Die Reduktion von Komplexität ist eine notwendige Fähigkeit von Wissenschaftler*innen, nicht nur in der Lehre, sondern auch in der Politikberatung oder der medialen Begleitung relevanter Vorgänge. Aber Komplexitätsreduktion hat Grenzen. Das wichtige Problem fehlender, jedenfalls unvollständiger, Tatsachengewissheit ist auf diesem Blog schon viel und kontrovers diskutiert worden (nicht nur, aber vor allem hier). Darüber hinaus gibt es weitere Faktoren, die nicht verschwiegen werden sollten, wenn Kritik geübt wird. Ich nenne zwei Beispiele:

Gegenwärtig wird viel kritisiert, dass die Debatte über mögliche Lockerungen der Restriktionen des öffentlichen und privaten Lebens sehr zurückhaltend und überwiegend im Hintergrund geführt wird. Dafür gibt es einen erkennbaren und auch billigenswerten Grund: Es soll verhindert werden, dass durch eine volltransparente und medial entsprechend begleitete Debatte in der Öffentlichkeit der Eindruck entsteht, die Lockerungen seien praktisch schon da oder kämen ganz bestimmt ganz bald. Das soll vor allem deshalb vermieden werden, weil eine flächendeckende Überwachung der Einhaltung der Restriktionen nicht möglich und schon gar nicht wünschenswert ist. Wenn also insbesondere die Exekutiven ihre Meinungsbildungsprozesse nicht in die Öffentlichkeit tragen, so lässt sich das mit dem Topos demokratischer Diskursverweigerung schlecht einfangen. Im ohnehin stattfindenden öffentlichen Diskurs kommt dieser Aspekt zu kurz, einmal abgesehen davon, dass Diskurse nur selten unter Idealbedingungen stattfinden.

Ein weiteres Beispiel ist der Umgang mit dem hierzulande zum Glück noch theoretischen Triage-Problem. Von juristischer Seite wird in Interviews gern auf die Absolutheit des Würdeschutzes und auf das an den Staat adressierte Verbot der Abwägung von Leben gegen Leben hingewiesen. Das ist natürlich zutreffend, aber nicht sehr hilfreich (dass es auch viel differenziertere Beiträge gibt, stelle ich gar nicht in Abrede). Man kann diesen Ausgangspunkt wählen und folgerichtig bedauern, dass eine rechtmäßige Entwicklung von Entscheidungskriterien für Triage-Situationen kaum möglich ist. Das ändert aber nichts daran, dass solche Entscheidungen getroffen werden müssen und getroffen werden, wenn Behandlungskapazitäten erschöpft sind. Das verbreitete Bedauern, „das Recht“ könne die Ärzt*innen, die solche Entscheidungen verantworteten, dann auch nicht entlasten, diese handelten also mit ihren Entscheidungen „rechtswidrig“ (damit wohl auch pflichtwidrig), scheint mir nicht die einzig mögliche rechtliche Antwort auf die Frage zu sein. Um diese inhaltliche Frage, von der andere mehr verstehen als ich, geht es hier aber weniger als um den Hinweis, dass die Komplexität der Fragestellung gerade hier abgebildet werden sollte. Wo, wenn nicht hier, kann das getan werden, was Wissenschaft gut kann: dem Zweifel Raum geben. Anderenfalls bleibt – und das dürfte für viele gelten, die nicht vom Fach sind – der ungute Eindruck zurück, dass einerseits die Hände in den Schoß gelegt werden, weil an der Rigidität des Verfassungsrechts nicht zu deuteln sei, dann aber denjenigen, die die Hände nicht in den Schoß legen können und dürfen, mit genau dieser Rigidität begegnet wird. Das wäre auch ein ethisches Problem.

Selbstgewissheit abrüsten

Das führt zum dritten Punkt. Wissenschaftler*innen sind von Selbstgewissheit manchmal nicht ganz frei. Wer planmäßig versucht, die Wahrheit zu ermitteln, muss neben dem internalisierten Zweifel auch die Fähigkeit zu Gewissheit haben, zumal in einer normativen Disziplin wie der Rechtswissenschaft. Auch wissenschaftssoziologische Gründe bewährter Selbstvermarktungsstrategien spielen hier eine Rolle. Und wer wollte kritisieren, wenn Standpunkte dezidiert eingenommen und nicht gleich beim ersten Gegenwind wieder geräumt werden? Was mir in der vertrackten Komplexität der gegenwärtigen Lage aber manchmal fehlt, ist eine Zurückhaltung im Ton, die erkennen lässt, dass Gegenauffassungen, wie sie bei der rechtlichen Bewertung von Problemen praktisch immer eingenommen werden können, ebenso legitim und wichtig sind wie die eigene Auffassung. Es ist wenig hilfreich, wenn in Beiträgen und Kommentaren zur Rechtmäßigkeit einzelner Corona-Maßnahmen nicht selten insinuiert wird, dass man der Auffassung folgen muss, wenn man nicht zu denjenigen gehören will, die es einfach nicht kapiert haben. Müssen die Dinge denn immer gleich „grundlegend verkannt“ werden? Warum sich in einem Fach, das sich in der Normallage nicht gerade durch Gewissheiten auszeichnet, mit zunehmender Komplexität der Fragen und Offenheit der Kausalverläufe ausgerechnet auch die Gewissheiten zu verfestigen scheinen, leuchtet mir jedenfalls nicht ein. Dabei geht es um die Frage, wie der ubiquitär angemahnte Diskurs geführt werden sollte, und wieder um die Darstellung von Politik: Denn mit steigender Evidenz der Kritik werden auch die Politiker*innen zu Trotteln. Das wird gar nicht immer beabsichtigt sein, sollte aber gerade jetzt zur Wahrnehmung dazugehören.

Expert*innen sind in der Krise ganz wichtig. Sie werden wegen ihres überlegenen Wissens und besonderer Kompetenzen befragt. Damit haben sie, zumal in dieser Situation der besonderen Zuspitzung, eine besondere Vorbildfunktion.

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