
Es ist nur eine kleine Meldung auf der Seite 2, und das scheint auch völlig auszureichen. Schließlich, wenn man glaubt, was da steht, beruhigt sich da gerade etwas. Da entsteht nicht ein Problem und fordert dringlich unsere Aufmerksamkeit, sondern da verschwindet eins. Da reicht auch ein Einspalter, na klar. „Warschau geht auf Kritiker zu“, heißt es dort. Puh! Da sind wir ja froh. Ist ja noch mal gut gegangen, was? Endlich können wir uns anderen, wichtigeren Dingen zuwenden wie etwa dem Nato-Gipfel, der heute unter großer Prachtentfaltung in Warschau beginnt und bei dem wir alle, ob Kaczynski oder Obama, keine Nickeligkeiten über irgendwelchen Verfassungskram gebrauchen können.
Ich weiß nicht, wer diese Überschrift gemacht hat bei der FAZ. Aber wenn man den Text liest, dann reibt man sich die Augen.
Noch mal zur Erinnerung: die polnische Regierungsmehrheit führt seit ihrer Amtsübernahme einen extrem aggressiven und hartnäckigen Feldzug, um sich die Kontrolle des Verfassungsgerichts vom Hals zu schaffen. Sie verweigert drei von der alten Mehrheit gewählten Richtern die Vereidigung. Sie hat ein Gesetz erlassen, das kaum verhohlen das Ziel verfolgt, das Verfassungsgericht lahmzulegen und ihm die Erfüllung seiner Aufgaben so schwer wie möglich zu machen. Als das Gericht dieses Gesetz für verfassungswidrig erklärte, verweigerte sie ihm unverblümt den Gehorsam. Seither weigert sie sich, die Urteile des Gerichts amtlich zu veröffentlichen, weshalb niemand mehr weiß, was jetzt gilt im Land – eine regelrechte Verfassungskrise. Das Details dazu hier, hier, hier, hier und hier.
Falls jemand meint, das sei alles nur Gezeter der alten Eliten, die es nicht vertragen, abgewählt worden zu sein: Das ist alles von der zur Klärung verfassungspolitischer Streitfragen dieser Art eigens vom Europarat installierten Institution, der Venedig-Kommission, ausführlich dokumentiert und bewertet worden.
Jetzt hat der polnische Sejm offenbar ein neues Gesetz beschlossen am Vorabend des NATO-Gipfels. Was steht nach Auskunft der FAZ drin? Fangen wir mal damit an, was offenbar nicht drin steht: Es steht nicht drin, dass die drei gewählten Verfassungsrichter vereidigt werden müssen. Es steht wohl weiterhin nicht drin, dass die Regierung die Urteile des Verfassungsgerichts veröffentlichen muss, um ihnen zur formellen Rechtsgeltung zu verhelfen. Um der Verfassungskrise in Polen abzuhelfen, wäre das Gesetz damit schon mal von vornherein ungeeignet.
Dafür, so die FAZ, „weicht das neue Gesetz die bisherigen Blockademöglichkeiten an einigen Stellen auf“, indem es nämlich die Pflicht, bei abstrakten Normenkontrollverfahren mit Zweidrittelmehrheit zu entscheiden, zurücknimmt. Das ist zweifellos löblich, will in mir aber kein rechtes Gefühl der Erleichterung aufkommen lassen. Die Taktik ist doch allzu durchschaubar: diese Pflicht war so unabweisbar wahnsinnig – wenn ein und dasselbe Gesetz nach einer Verfassungsbeschwerde von einer einfachen Mehrheit für verfassungswidrig erklärt wird und in einem Normenkontrollverfahren mangels Zweidrittelmehrheit nicht für verfassungswidrig erklärt wird, was dann? –, dass sie doch wohl von vornherein als Ballast intendiert war, den man gefahrlos über Bord werfen kann, wenn es politisch opportun erscheint.
Umgekehrt hat der polnische Gesetzgeber seine Fantasie, was man dem Verfassungsgericht noch so alles für Stöcke in die Speichen stecken kann, noch ein wenig weiter spielen lassen, und siehe da: es ist ihm der FAZ zufolge noch allerhand eingefallen. Vier der 15 Richter_innen sollen künftig verlangen können, Urteile um ein Vierteljahr aufzuschieben, zweimal hintereinander im gleichen Fall. Justizminister und Generalstaatsanwalt sollen durch Fernbleiben von der Urteilsverkündung, bei denen ihre Anwesenheit vorgeschrieben ist, dieselbe vereiteln können.
Ich weiß nicht, ob die polnische Regierung erneut beabsichtigt, insoweit die Venedig-Kommission um ein Gutachten zu bitten. Warum sollte sie, wenn sie schon in der letzten Runde für die Erkenntnisse der europäischen Verfassungsrechtsexpert_innen kaum mehr als ein höhnisches Grinsen übrig hatte. Andererseits: vielleicht ist das aus PiS-Perspektive gerade attraktiv. Eine bessere Gelegenheit, dem Konstitutionalismus nach erfolgreich zu Ende gebrachtem Nato-Gipfel den ethnisch-kulturell angepinselten „Wir-sind-das-Volk“-Mittelfinger entgegenzurecken, gibt es doch kaum.
Der Konflikt in Polen ist ein europäischer Konflikt, nicht nur weil Polen als EU-Mitglied den Werten von Art. 2 EUV verpflichtet ist, sondern auch, weil die Konfliktkonstellation eine ist, die ganz Europa, wenn nicht die ganze Welt durchschneidet. Es geht um den Konflikt mit dem wachsenden, nationenübergreifenden Lager derer, die die Bindung der Mehrheitsmacht der „normalen Leute“ an verfassungs-, europa- und völkerrechtliche Verfahrensregeln und Rechtsprinzipien abschütteln wollen im Namen der „Souveränität“des Volkes, tun zu können, was es will. Und was das Volk will, das lässt sich gestalten, wenn man erst mal an der Macht ist. Dazu hat man die Macht schließlich.
In Ungarn, Russland und der Türkei ist dieser Kampf wohl bereits verloren. In Österreich und in UK scheint der Sieg der Normalitären zum Greifen nah, in Frankreich und den Niederlanden ist er eine reale Möglichkeit. In Polen steht es Spitz auf Knopf.
Wenn wir uns jetzt faul zufriedengeben mit der durch nichts belegten Behauptung, der polnische Verfassungskonflikt sei aus der Welt geschafft und alles komme wieder in Ordnung, dann verraten wir nicht nur diejenigen Polinnen und Polen, die mit höchstem persönlichem Einsatz für die Verfassung ihres Landes kämpfen, und das sind viele. Dann bestätigen wir obendrein den im normalitären Lager weit verbreiteten höhnischen Vorwurf, dass hinter unserer Sorge um Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Menschenrechte sowieso nichts weiter steckt als windelweiche Heuchelei.
Die FAZ ist übrigens nicht das einzige Medium, das den Köder, den Polens Regierung der europäischen Öffentlichkeit hingehalten hat, widerstandslos frisst und hinunterschluckt. „Poland tries to end constitutional crisis ahead of NATO summit“, meldete gestern schon Politico. No, it didn’t, dumbasses! Das Gegenteil ist richtig!