3. Juli 2016

Daniel Weber

Flucht aus der Grundrechtsbindung: „Flüchtlinge fressen“ und das ausländerrechtliche Beförderungsverbot

Die Kunstaktion Flüchtlinge fressen hat die Praxis, die Kontrolle der Einreise von Ausländern ohne Aufenthaltstitel den Fluggesellschaften aufzubürden, in den Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit zurückgeholt. Was wenige wissen: seit 1992 steht der höchstrichterliche Vorwurf im Raum, dass die Rechtsgrundlage dieser Praxis in ihrer derzeitigen Form/in ihrem Umfang verfassungswidrig ist. Bis heute ist dieser Vorwurf in Karlsruhe ungeklärt geblieben.

Das Zentrum für Politische Schönheit (ZPS) machte in den letzten Tagen mit einer provokanten Aktion unter dem Titel „Flüchtlinge fressen – Not und Spiele“ Schlagzeilen. Mitten in der Hauptstadt, vor dem Maxim Gorki Theater Berlin (nahe Unter den Linden), war eine Arena aufgebaut, in der fast zwei Wochen lang vier libysche Tiger untergebracht waren. Denen sollten Geflüchtete zum Fraß vorgeworfen werden, die sich dazu freiwillig gemeldet hatten, wenn nicht wie geplant 100 syrische Kriegsflüchtlinge mit einem gecharterten Flugzeug auf sicherer Route von Izmir nach Berlin-Tegel befördert werden könnten. Die Aktion macht deutlich, wie die deutsche Migrationspolitik Menschen auf illegale lebensgefährliche Fluchtrouten drängt, weil der sichere Weg über die Fluglinien ihnen versperrt ist.

§ 63 Aufenthaltsgesetz untersagt Beförderungsunternehmen die Beförderung von Ausländern nach Deutschland, wenn diese nicht im Besitz eines erforderlichen Passes und eines erforderlichen Aufenthaltstitels sind. Widersetzt sich das Unternehmen dem Verbot, droht für jeden beförderten Ausländer ein Zwangsgeld von 1000 bis 5000 Euro. Die Norm setzt europarechtliche Vorgaben aus den Schengener Abkommen und der Richtlinie 2001/51/EG um.

Geflüchtete, Asyl- und Schutzsuchende haben ein Recht auf Schutz, wenn sie im Land sind, aber keinen Anspruch, ins Land einzureisen. Ein Schutzersuchen (in Form des Asylantrags) kann erst in Deutschland gestellt werden. Genau hier setzt das Beförderungsverbot an. Es richtet sich offensichtlich nicht direkt gegen Asylsuchende, die damit auch keine unmittelbare Beschwer durch deutsche Staatsgewalt geltend machen können. Es erschwert aber gerade den Zugang zu der für den Asylantrag zuständigen Antragsstelle in Deutschland. Indem legale Fluchtwege blockiert werden, wird die hoheitliche Aufgabe der Einreisekontrolle faktisch verlagert. Sie wird zwar nicht direkt dem privaten Flugunternehmen übertragen, das Verbot führt jedoch faktisch zu einer Ausgrenzung von Schutzsuchenden von einem Verfahren in Deutschland.

Das Problem dabei: obwohl Geflüchteten nach internationalem Recht die Einreise und der Antrag auf Schutzgewähr nicht wegen des Fehlens gültiger Einreisepapiere verwehrt werden kann, setzt das Verbot gerade an dem Fehlen eines Visums an. Zwar gilt die allgemeine Visumspflicht grundsätzlich auch für Asylsuchende und Geflüchtete (§ 4 AufenthG). Nach Art. 31 Abs. 1 der Genfer Flüchtlingskonvention kann ihnen das Fehlen ordnungsgemäßer Einreisepapiere jedoch nicht entgegengehalten werden; der Schutz setzt also ein sobald sie das Zielland erreichen. Auch die europarechtlichen Grundlagen des § 63 AufenthG stellen ausdrücklich klar, dass die Verpflichtungen der Vertragsstaaten aus der Genfer Flüchtlingskonvention nicht beeinträchtigt werden (RL 2001/51/EG, Erwägungsgrund 3). Da die Asylgewährung und damit die Einreise allein wegen fehlender Papiere nicht verwehrt werden kann, flüchtet sich der Gesetzgeber durch das Beförderungsverbot ins Privatrecht und umgeht damit seine grundrechtliche Verpflichtung.

BVerwG: Unvereinbarkeit mit dem objektiven Wertgehalt des Grundrechts auf Asyl

Bereits 1992 hat das Bundesverwaltungsgericht die damalige Fassung des Beförderungsverbots (§ 18 Abs. 5 AuslG 1965) als „Umgehung des verfassungsrechtlich verbürgten Asylrechts durch einfaches Recht“ bezeichnet und für unvereinbar mit dem objektiven Wertgehalt des Grundrechts auf Asyl erklärt. Das Verbot, Asylsuchende an der deutschen Grenze zurückzuweisen, werde demnach umgangen, „wenn auf Veranlassung deutscher Behörden Asylsuchende vor der deutschen Grenze an der Einreise in das Bundesgebiet gehindert werden“, da Flugunternehmen ihre Beförderung ohne regelmäßig nicht erteilte Visa ablehnen müssen. „Die Sorge vor einer massenhaften Inanspruchnahme des Asylrechts kann allein keine Einreisebeschränkungen rechtfertigen.“

Das Grundrecht auf Asyl verbiete eine solche Verhinderung der Einreise durch „gezielte staatliche Beförderungsbeschränkungen“. Darf der Staat Asylsuchende selbst nicht abweisen, kann er seine grundrechtliche Pflicht der Prüfung des Asylantrags auch nicht dadurch entgehen, dass er durch Private abweisen lässt. Das Beförderungsverbot ist damit verfassungswidrig, soweit es Asylsuchende erfasst.Da nach Art. 100 I GG nur das Bundesverfassungsgericht Gesetze für verfassungswidrig erklären kann, legte das BVerwG den Fall in Karlsruhe vor. Dort konnte man sich erst fünf Jahre später zu einer Entscheidung durchringen, und die ging der materiellen Frage aus dem Weg: Das BVerfG hielt die Vorlage mangels möglicher Verletzung subjektiver Rechte der klagenden Beförderungsunternehmen für unzulässig. Deren luftverkehrsrechtliche Betriebsgenehmigungen umfassten jedenfalls nicht die Beförderung von visumspflichtigen Asylsuchenden. Aus verfassungsgerichtlichem Respekt vor dem Fachgericht hielt sich das BVerfG vornehm zurück, hinsichtlich des Erfolgs (die Möglichkeit der Verletzung anderweitiger Rechte) eigenständige Erwägungen anzustellen.

Allerdings war in dem Verfahren, mit dem sich die Bundesgerichte zu befassen hatten, lediglich eine Anordnung ergangen, die ein entsprechendes Beförderungsverbot ohne notwendige Einreisepapiere der Passagiere enthielt. Das Verfassungsgericht betonte dabei ausdrücklich, dass etwaige Rückförderungs- oder Geldleistungspflichten nicht Gegenstand des Ausgangsverfahren gewesen seien. In solchen Fällen wäre eine mögliche Verletzung subjektiver Rechte durch die finanzielle Belastung wohl auch schwerlich zu verneinen.

Erstaunlicherweise wurden die Frage der Verfassungsmäßigkeit der Regelung dennoch in der Folge von der Rechtsprechung ad acta gelegt. Das BVerwG urteilte (wohlgemerkt über sieben Jahre nach seinem Vorlagebeschluss) auf den Beschluss des BVerfG hin wiederum schlicht, das Beförderungsverbot (an sich, könnte man ergänzen) berühre die grundrechtliche Asylgewährleistung nicht. Dem ursprünglichen Vorlagebeschluss habe die Auffassung zugrunde gelegen, die Rechte der Beförderungsunternehmen erstreckten sich auch auf Schutzsuchende ohne Visum, da denen die fehlenden Einreisedokumente nicht entgegengehalten werden können. Da dies gerade nicht der Fall sei, sei auch der Rechtskreis des Flugunternehmens nicht betroffen.

Damit ist aber nur die besagte Dissonanz bestätigt: Obwohl Schutzsuchenden ein fehlendes Visum nicht vorgehalten werden kann, wird gerade wegen deren fehlendem Visums den Flugunternehmen ihre Beförderung untersagt. Diese Dissonanz ist, da sich das BVerfG auf die formale Prüfung der Zulässigkeit beschränkte, verfassungsgerichtlich weiterhin ungeprüft.

Die verfassungsrechtlichen Bedenken spielen in der Rechtsprechung jedenfalls mittlerweile keine erkennbare Rolle mehr. Vielleicht trägt die Kunstaktion des ZPS dazu bei, diese notwendige Diskussion wiederzubeleben.

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