Lasst euch herzen und küssen, ihr Richterinnen und Richter des Ersten Senats! Ich weiß, ihr mögt solche Zudringlichkeiten nicht besonders, aber es muss heraus aus mir: Ihr seid einfach toll.
Das heute verkündete Fraport-Urteil – man könnte es auch das „,Shoppen-und-Maulhalten’-gibt’s-nicht“-Urteil nennen – ist eine gewaltige Tat für Freiheit und Öffentlichkeit in Deutschland: Es stoppt die seit 30 Jahren um sich greifende Privatisierung des öffentlichen Raums. Es stellt sicher, dass es auch im 21. Jahrhundert Orte politischer Öffentlichkeit gibt, ohne dass irgendein Investor sagen kann, sorry, mir gehört das hier, und hier wird nur geshoppt und nicht politisiert.
Keine Rücksicht aufs Gesellschaftsrecht
Der Frankfurter Flughafen ist eine privatrechtlich organisierte AG, die überwiegend, aber nicht ganz dem Staat gehört. Dass das BVerfG ihn kompletto der Grundrechtsbindung unterwirft, ohne sich lang mit der Frage aufzuhalten, wie weit die gesellschaftsrechtlichen Einflussmöglichkeiten des Staates auf seine Beteiligung reichen, gehört gleichfalls zu den verfassungsrichterlichen Großtaten dieses Tages.
Das heißt zum Beispiel, dass die zu Shopping-Malls ausgebauten Bahnhöfe der Deutschen Bahn AG künftig das bleiben müssen, was sie ohnehin schon sind: öffentlicher Raum. Wenn ich da ein Schild hochhalten will, dann darf ich das.
Hallo, Herr Grube? Sie wollten etwas sagen? Ach, er hat schon weggeklickt…
Aber damit nicht genug. Ich gehe jede Wette, dass auch für rein private Shopping-Malls die Zeiten ungestörter Konsumstimmungserzeugung ein Ende finden werden.
Zwar betont der Senat immer wieder mal, dass die Wirkungen des Urteils unmittelbar nur die grundrechtsgebundenen öffentlichen Unternehmen treffen. Aber da würde ich mich an Investors Stelle nicht drauf verlassen.
„Öffentliches Forum“
Zwar kann er sich, anders als Fraport und Bahn, wenn er einen Demonstranten rausschmeißen lässt, auf seine eigenen Grundrechte berufen: auf Eigentumsfreiheit etwa – dass man nicht so ohne weiteres sein Eigentum zum Abhalten öffentlicher Versammlungen dienstverpflichten kann. Oder auf Berufsfreiheit, in die eingegriffen wird, wenn verstörte Shopper vor den Demonstranten Reißaus nehmen und lieber nebenan den Flachbildschirm kaufen. Aber das wird ihm im Regelfall nicht viel helfen.
Schlüsselbegriff des Urteils ist das „öffentliche Forum“: Das sind Straßen, Plätze, Fußgängerzonen, auf denen die Leute herumlaufen, nicht nur, weil sie von A nach B wollen, sondern einfach so, weil man sich dort begegnet und Neuigkeiten, Meinungen, Tratsch, Blicke, Grüße und ganz zuletzt auch Waren miteinander tauscht. Das muss nicht im Freien sein:
Einkaufszentren, Ladenpassagen und sonstige Begegnungsstätten
fasst das BVerfG auch unter diesen Begriff, ob überdacht, eingezäunt, mit Türstehern versehen, ganz egal. Nur Orte, die man gezielt für einen ganz bestimmten Zweck aufsucht, sind keine solchen öffentlichen Foren.
Hausrecht und Erlebnis-Shopping
Das wird über die Ausstrahlungswirkung der Grundrechte in private Rechtsbeziehungen auch seinen Weg in die zivilrechtliche Hausrechts-Rechtsprechung finden: Wenn der Herr Investor will, dass die Leute in seiner Mall nicht nur shoppen, sondern Kaffee trinken, Freunde treffen, herumschlendern, quatschen und herumhängen und Spaß haben sollen – dann wird er ihnen nicht diktieren können, worüber und zu welchem Zweck sie das tun. Dann wird er nicht Leute rausschmeißen dürfen, nur weil das, was sie zu sagen haben, ihm zu politisch ist. Das gibt dann auch sein – im Lichte von Art. 5 und 8 GG ausgelegtes – Hausrecht nicht mehr her.
Auch ihm werden meiner Meinung nach seine Eigentums- und Berufsfreiheit nicht gestatten, mit den Worten des Ersten Senats
eine „Wohlfühlatmosphäre“ in einer reinen Welt des Konsums zu schaffen, die von politischen Diskussionen und gesellschaftlichen Auseinandersetzungen frei bleibt. Ein vom Elend der Welt unbeschwertes Gemüt des Bürgers ist kein Belang, zu dessen Schutz der Staat Grundrechtspositionen einschränken darf.
Schon als Schriftsteller muss ich hier sagen: Wohl einem Land, dessen Verfassungsrichter solche Sätze zu formulieren in der Lage sind. (Den letzteren kannten wir zwar schon aus dem Benneton-Urteil, aber der ist immer wieder schön.)
Zurück zum „öffentlichen Forum“: Das gute alte KaDeWe, könnte ich mir vorstellen, ist nach dieser Definition aus dem Schneider, während die funky Potsdamer-Platz-Arkaden, denke ich mal, zu einem heißen Kandidaten für das Aufeinanderprallen öffentlicher Meinungen avancieren könnten. Da ist es schön geheizt, und wenn mir vom Schilderhochhalten der Arm müde wird, kann ich mir schnell für ein absurdes Geld einen lactosefreien Diät-Papaya-Granatapfel-Smoothie kaufen (was dann wieder die Tränen des Investors trocknen hilft).
Ich stelle hiermit den Antrag, dieses Urteil künftig im wissenschaftlichen Schrifttum –als Ehrung für einen kürzlich 80 Jahre alt gewordenen großen Frankfurter – „Jürgen-Habermas-Gedenkurteil“ zu nennen.