24. Mai 2017

Dana Schmalz

Genauer hinschauen: Der Beschluss des BVerfG zu einer Abschiebung nach Griechenland

Ob Grundrechte ausreichend geschützt sind, das ist unter Anschauung der Wirklichkeit festzustellen und nicht lediglich mit Blick auf eine Rechtsnorm. Diese Forderung, genauer hinzuschauen, bildete einen zentralen Baustein des Urteils im Fall M.S.S. gegen Belgien und Griechenland. Damals hielt der Europäische Menschengerichtshof (EGMR) fest, dass eine Rückschiebung von Asylsuchenden nach Griechenland – ohne Anschauung der dort drohenden Verhältnisse – sie dem Risiko unmenschlicher Behandlung aussetzte und so gegen Art. 3 EMRK verstieß. Das Urteil im Fall M.S.S. wandte sich also gegen eine Interpretation der Dublin-Verordnung, nach welcher die Zuständigkeitsregeln jede weitere Prüfung vor einer Überstellung überflüssig machten. Wie der Europäische Gerichtshof (EuGH) anschließend im Fall N.S. bestätigte, konnte das Prinzip gegenseitigen Vertrauens in der Europäischen Union nicht dazu führen, dass lediglich auf formale Verpflichtungen der Staaten und nicht auf deren tatsächliche Umsetzung geschaut werde.

Der gestern veröffentlichte Beschluss des Bundesverfassungsgerichts zielt in die gleiche Richtung: Er fordert genau hinzuschauen. Gegenstand war die Verfassungsbeschwerde eines Syrers, dem in Griechenland internationaler Schutz zuerkannt worden war und der in Deutschland erneut einen Asylantrag gestellt hatte. Dieser Antrag wurde als unzulässig abgelehnt und der Beschwerdeführer sollte nach Griechenland abgeschoben werden. Dagegen wandte er sich mit dem Hinweis, dass die Lage für anerkannt Schutzberechtigte in Griechenland katastrophal sei, tatsächlich noch schlechter als für Asylbewerber. Ohne jegliche Unterstützung durch den Staat, ohne Wohnraum, Arbeitsmöglichkeiten, Integrationsangebote, verstoße eine solche Situation gegen die Garantien des Art. 3 EMRK, dem Verbot der unmenschlichen und erniedrigen Behandlung. Das zuständige Verwaltungsgericht Minden prüfte das nicht näher, sondern befand pauschal, das Konzept der normativen Vergewisserung sei für Griechenland nicht widerlegt.

Normative Vergewisserung, oder: es zählt, was auf dem Papier steht

Dieses Konzept der normativen Vergewisserung gründet verfassungsrechtlich im Art. 16 a Abs. 2 Satz 1 GG, also der Regel, dass wer aus einem Mitgliedstaat der EU oder aus einem sicheren Drittstaat einreist, sich nicht auf das Asylrecht berufen kann. Es beruht auf der Annahme, dass in diesen Staaten der Schutz bereits sichergestellt war und ein Asylantrag keiner Prüfung mehr bedarf.

Im Verhältnis zu anderen Staaten wirkt diese Norm als Zuständigkeitsverteilung, als einseitige wohlgemerkt. Im Verhältnis zur individuellen Antragstellerin wirkt sie als kaum widerlegbare Vermutung: Dass im anderen Staat ausreichend Schutz besteht, ist generell festgestellt. Die normative Vergewisserung bedeutet, dass in der Regel gerade keine Vergewisserung im Einzelfall stattfindet. Zwar hat das Bundesverfassungsgericht festgehalten, dass eine Prüfung der Zurückweisung ausnahmsweise erreicht werden kann, wenn der Antragsstellende darlegt, dass es sich um einen Sonderfall handelt, welcher von dem Konzept der normativen Vergewisserung gerade nicht aufgefangen wird. Doch an diese Darlegung stellen sich hohe Hürden.

Gegenseitiges Vertrauen – aber nicht blindes

Für die Entscheidungen über internationalen Schutz und die Rücküberstellungen gemäß der Dublin-Verordnung wird das Konzept der normativen Vergewisserung in grober Entsprechung angewandt – mit den sich ergebenden Anforderungen (für eine ausführliche Diskussion siehe hier). In der europarechtlichen Diskussion knüpfen die entsprechenden Fragen an das Prinzip gegenseitigen Vertrauens: Dass eine Rückführung gemäß den Dublin-Zuständigkeiten normalerweise nicht näher geprüft wurde, beruhte auf der Annahme, dass die Mindeststandards in allen Mitgliedstaaten gewährleistet sind. Doch nicht nur sind seit der genannten Rechtsprechung in M.S.S (EGMR) und N.S. (EuGH) Rückführungen in mehrere Mitgliedsstaaten ausgesetzt worden; der EuGH hat auch neulich gerade betont, dass nicht nur auf die Gesamtlage („systemische Mängel“), sondern auf eine eventuell drohende Grundrechtsverletzung im Einzelfall zu schauen sei (eine Analyse des Falls hier). Das Prinzip gegenseitigen Vertrauens darf nicht zu Lasten der Grundrechte des Einzelnen gehen, es kann nicht bedeuten, dass die Absicht der ausreichenden Mindeststandards die Prüfung ersetzt, ob diese auch tatsächlich vorliegen.

Dieser Grundsatz muss gelten nicht nur für die Rückführung von Asylsuchenden, sondern auch für diejenige von bereits anerkannten Flüchtlingen, wie der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts überzeugend festhält. Nachdem das Verwaltungsgericht Minden die Anhörungsrüge des Antragssteller zweifach zurückgewiesen hatte und auf vorgelegte Nachweise kaum eingegangen war, erhob dieser Verfassungsbeschwerde. Das Bundesverfassungsgericht befand, dass die Prüfung durch das VG Minden dem Gebot des effektiven Rechtsschutzes nicht genügt hatte. Der Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz hätte eben verlangt, genauer hinzuschauen. Wenn es um eine mögliche Verletzung des Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit geht, dann müssen auch die verfahrensrechtlichen Garantien entsprechend ernstgenommen werden (Rn. 14). Unter Bezugnahme auf das M.S.S-Urteil hält das Bundesverfassungsgericht fest, dass vorliegend der Sachaufklärungspflicht unzureichend nachgekommen sei. Dafür hätte allenfalls die aufschiebende Wirkung der Klage angeordnet werden müssen.

Der Beschluss richtet sich also gegen die unzureichende Prüfung durch das VG Minden, er macht wohlgemerkt keine Aussage darüber, ob bei hinreichender Prüfung eine Abschiebung nach Griechenland zulässig gewesen wäre. Aber er zeigt, dass den vorgebrachten Argumenten des syrischen Beschwerdeführers Gewicht zukommt: Dass Flüchtlinge unter den Sparmaßnahmen in Griechenland am stärksten leiden, dass ihnen praktisch kein Zugang zu Sozialleistungen offensteht, dass im Gegensatz zu griechischen Bürgern auch keine sozialen Netzwerke bestehen, welche diese Härten unter Umständen abfedern können. Dass anerkannt Schutzberechtigten grundsätzlich nur ein Anspruch auf Inländergleichbehandlung zusteht, setzt nicht die Anforderung außer Kraft, eine Verletzung des Art. 3 EMRK zu prüfen. Und es bestehen zumindest Hinweise, dass die tatsächlichen Lebensbedingungen von Flüchtlingen in Griechenland gegen dieses Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung verstoßen.

Am Horizont: der europäische Asylstatus?

Auch wenn der Beschluss lediglich die unzureichende Sachaufklärung rügt – weist er voraus auf eine Situation, in der entsprechend der Aussetzung von Dublin-Überstellungen auch die Abschiebung von bereits anerkannt Schutzberechtigten systematisch eingestellt wird? Was hieße eine solche Situation für das Gemeinsame Europäische Asylsystem? Dass die Ausgestaltung der Zuständigkeitsverteilung in der EU letztlich außer Kraft gesetzt wurde, weil sie grundrechtliche Mindeststandards nicht wahren konnte, ist eine Niederlage. Dass die EU-Kommission Ende 2016 empfahl – wie vom VG Minden zitiert – Dublin-Überstellungen nach Griechenland wieder aufzunehmen, wurde von verschiedenen Organisationen als wirklichkeitsfremd kritisiert (vgl. auch hier und hier). Der gemeinsamen Gestaltungsfähigkeit der EU-Staaten stellen die Entwicklungen insgesamt ein Armutszeugnis aus.

Wenn die Notbremse des Grundrechtsschutzes auch gegen die Abschiebung von anerkannt Schutzberechtigten innerhalb der EU greifen sollte, dann verstärkt das im besten Fall den Druck auf die mitgliedstaatlichen und europäischen Gesetzgeber. Dass die gerichtliche Aussetzung von Rückführungen eine aktive Gestaltung der Verantwortungsteilung nur schlecht ersetzt, ist in den letzten Jahren allzu deutlich geworden: Die Rechtsprechung in M.S.S. und N.S. hat kein gerechteres System geschaffen, sie konnte es nicht. Staaten haben darauf reagiert, indem sie die Bewegungsfreiheit von Asylsuchenden und Flüchtlingen noch stärker beschränkt haben, so dass diese gar nicht erst in die Lage kommen, in einem anderen Staat die Rechtmäßigkeit ihrer Rückschiebung prüfen zu lassen. Auf Dauer lässt sich eine solche Politik der Leugnung nicht durchhalten.

Eine Möglichkeit, auf die Probleme gestaltend zu reagieren, wäre das Hinarbeiten auf einen europäischen Asylstatus (vorgeschlagen beispielsweise hier). Das entspräche dem ursprünglichen Ziel, doppelte Verfahren zu vermeiden. Zugleich würde es den anerkannt Schutzberechtigten die Bewegungsfreiheit gewährleisten, die ihnen erlaubt, Bedingungen zu entgehen, die eine Verletzung des Art. 3 EMRK bedeuten. Das Ergebnis wäre das gleiche wie bei einem Verbot der Zurückschiebung – mit dem wichtigen Unterschied, dass nicht die Fähigkeit, es allen physischen Widrigkeiten zum Trotz in einen anderen Mitgliedsstaat zu schaffen, über den Grundrechtsschutz einer Person entscheidet.

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