Eine Verteidigung der Zweite-Reihe-Rechtsprechung

Sitzblockaden der „Letzten Generation“ bewerten deutsche Gerichte als Nötigung durch Gewalt. Doch dieses seit längerer Zeit vorherrschende Verständnis des Gewaltbegriffs bei § 240 Strafgesetzbuch (StGB) begegnet heute wieder Kritik. Das belegt nicht zuletzt Siegmar Lengauers kürzlich erschienener Beitrag, in dem er aus österreichischer Perspektive ungläubig auf die deutsche Rechtsprechung zum Gewaltbegriff blickt. Auch auf der 10. Tagung des Jungen Strafrechts in Berlin stieß Lengauer mit seinem Störgefühl auf breite Zustimmung. Ich halte dagegen und möchte die „Zweite-Reihe-Rechtsprechung“ verteidigen. Sie ist mit dem Begriff „Gewalt“ in § 240 StGB vereinbar. Gewalt bedeutet nicht zwingend Aktivität – maßgeblich ist, ob körperlich wirkende Macht über eine andere Person ausgeübt wird. Diese Auslegung entspricht den historischen Hintergründen der Vorschrift sowie dem Schutzzweck und der Systematik der Norm. Das bedeutet nicht, dass das hierzulande vorherrschende Gewaltverständnis bei § 240 StGB universell gültig oder das einzig richtige ist und von anderen Rechtsordnungen zwingend übernommen werden müsste. Es besteht aber umgekehrt auch kein Anlass, von der Zweite-Reihe-Rechtsprechung zugunsten eines engeren Gewaltbegriffs wieder abzurücken.

Wer übt wodurch Gewalt aus?

Der Grundgedanke der Zweite-Reihe-Rechtsprechung ist einfach (zusammenfassend BVerfG NJW 2011, 3020): Indem sich die Teilnehmerinnen an Sitzblockaden auf die Straße setzen, sorgen sie dafür, dass die betroffenen Fahrzeuge anhalten. Bei der „ersten Reihe“ haltender Fahrzeuge beruht dies auf einem freien Willensentschluss der Fahrer, sind sie doch (faktisch) nicht daran gehindert, weiterzufahren – ohne Rücksicht auf Verluste. Dass die „erste Reihe“ anhält, liegt also nicht an einer körperlichen Zwangswirkung, die von den Sitzenden ausgeht. Anders ist dies bei den Fahrzeugen ab der „zweiten Reihe“: Für sie stellt sich die „erste Reihe“ als unüberwindbares oder jedenfalls nur unter Inkaufnahme eigener physischer Einbußen überwindbares Hindernis dar. Von der „ersten Reihe“ geht also eine körperliche Zwangswirkung auf die „zweite Reihe“ aus. Weil dies nicht von der „ersten Reihe“ selbst, wohl aber von den Teilnehmern an der Sitzblockade genau so gewollt ist, übt, wer sich auf die Straße setzt und die „erste Reihe“ zum Halten zwingt, dadurch gegenüber allen nachfolgenden Fahrzeugen Gewalt aus. Nicht allein im passiven Sitzen, sondern darin, dass infolge des Sitzens die erste Reihe der Fahrzeuge anhält und  für alle nachfolgenden Fahrzeuge ein Hindernis darstellt – die Sitzblockade also zu einer „Blechblockade“ führt – liegt die Gewalt im Sinne des § 240 StGB.

Vor diesem Hintergrund und eingedenk der Rechtsprechungsentwicklung zum Gewaltbegriff in Deutschland ((Übersicht bei Rengier, StrafR BT II, § 23 Rn. 2 ff.)) ist der Vorwurf, es handle sich um einen „vergeistigten“ Gewaltbegriff, unbegründet. Allgemein teilt sich der Begriff in zwei Bestandteile auf: eine Kraftentfaltung auf Täter- und eine Zwangswirkung auf Opferseite. Damit die Tatbestandsmäßigkeit eines Verhaltens auch angesichts technischer Unterstützungsmöglichkeiten (Explosion per Knopfdruck, Einschließen durch Umdrehen eines Schlüssels usw.) nicht davon abhängt, wie viel Kraft auf Täterseite aufgewendet wird, reicht nach inzwischen gefestigter Rechtsprechung jede körperliche Kraftentfaltung auf Täterseite aus (BGHSt 41, 182 (185)). Wer einen Knopf betätigt, wer einen Schlüssel umdreht, aber auch wer sich auf die Straße setzt oder in der „ersten Reihe“ sein Fahrzeug zum Stehen bringt (d. h. Energie aufwendet, um dessen Geschwindigkeit zu verringern), entfaltet körperliche Kraft. Dass man sich später passiv verhält und die einmal geschaffene Lage lediglich aufrechterhält, d. h. die Türe nicht wieder aufschließt, nicht von der Straße aufsteht oder mit seinem Fahrzeug nicht weiter- oder wegfährt, ist irrelevant.

Die von dieser Kraftentfaltung ausgehende Zwangswirkung auf Opferseite darf nach den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts gerade nicht nur eine psychische, sondern muss eine körperliche sein (BVerfGE, 92, 1 (16 ff.); 104, 92 (102)). Das unterscheidet die heute vorherrschende Auslegung des Gewaltbegriffs von einem „vergeistigten“ Verständnis (dazu noch BGHSt 23, 46 (54)). Lengauer ist mit der Forderung nach einer „Materialisierung“ der Gewalt zuzustimmen. Diese Voraussetzung ist bei Sitzblockaden aber erfüllt: Wer mit seinem Fahrzeug irgendwo in der durch die Protestierenden ausgelösten Fahrzeugkolonne steht, ist aufgrund der vor und (meist auch) hinter ihm stehenden Fahrzeuge physisch daran gehindert, vor- oder zurückfahren, und genau darin materialisiert sich das Verhalten der Protestierenden. Anders ist dies z. B. in den Parkbucht-Fällen: Wer allein mit seinem Körper versucht, eine Parkbucht für eine Freundin freizuhalten, übt gegenüber einem ebenfalls an der Parkbucht interessierten Dritten keine Gewalt aus, denn der Dritte kann den Betroffenen „behutsam wegschieben“, sieht sich also keinem körperlich wirkenden Zwang ausgesetzt (vgl. auch BGH NStZ-RR 2002, 236).

So umstritten die Nötigung und das Merkmal der Gewalt im Zusammenhang mit den Sitzblockaden auch sind, möchte ich im Folgenden zeigen, dass im Ergebnis mehr für als gegen die Zweite-Reihe-Rechtsprechung spricht.

Der Begriff Gewalt

Der Wortlaut des § 240 StGB schließt es nicht aus, vermittelt über die „erste Reihe“ eine Nötigung durch Gewalt bei Sitzblockaden anzunehmen. Wieso Gewalt, wie Lengauer meint, begrifflich-notwendig mit Angriff, Aggression und Aktivität verbunden sein soll, erschließt sich mir nicht (zumal manche bei der Notwehr auch einen passiven Angriff durch Unterlassen für möglich halten ((Roxin/Greco, AT I, § 15 Rn. 11 mit Nachweisen.)). Stünde die Bedeutung des Gewaltbegriffs derart fest, wären auch hinsichtlich der langen und harten Diskussion in der deutschen Rechtsprechung und Literatur zu § 240 StGB fragende Gesichter angebracht. Dem ist aber nicht so. Das mag auch daran liegen, dass der Begriff in unterschiedlichen Zusammenhängen verwendet wird. Es braucht also einen nötigungsspezifischen Gewaltbegriff. Gewalt im Sinne des § 240 StGB hat meiner Ansicht nach etwas mit der Ausübung von (körperlich wirkender) Macht, nicht aber zwingend etwas mit Aktivität zu tun. Die Unterscheidung zwischen aktiv und passiv ist dann unmaßgeblich. Die auch von Lengauer zitierte „höhere Gewalt“ zeichnet sich beispielsweise ebenfalls nicht dadurch aus, dass etwas Höheres aktiv handelt, sondern dass ich einer höheren, „gewaltigen“ oder „überwältigenden“ Macht als Sterblicher machtlos ausgeliefert bin (und mich deshalb auch keine Verantwortung für die Folgen trifft, vgl. etwa § 7 Abs. 2 StVG).

Ein Blick in die Vergangenheit

Historischer Ursprung des § 240 StGB ist das crimen vis im römischen Recht.((Übersicht zur Entstehungsgeschichte bei NK-StGB/Toepel, § 240 Rn. 2 ff.)) Dort ging es um ein Delikt gegen die öffentliche Sicherheit, nicht gegen ein Individuum. Später erfolgte zu Recht eine Individualisierung der Nötigung weg vom Schutz kollektiver Belange oder gar „des staatlichen Gewaltmonopols“ hin zum konkreten Opfer. Zwar hält man die historischen Hintergründe des § 240 StGB gemeinhin für unergiebig für dessen Auslegung im 21. Jahrhundert. Auch ist angesichts verschiedener Gewaltbegriffe im Zusammenhang mit „der Staatsgewalt“ und „dem Gewaltmonopol“ (potestas und vis) Vorsicht mit vorschnellen historischen Argumenten geboten. Wenn es allerdings ursprünglich um eine Verletzung des öffentlichen Friedens oder ein Auflehnen gegen einen staatlichen Machtanspruch ging, spricht infolge der Individualisierung der Nötigung einiges dafür, dass heutzutage nicht der staatliche Machtanspruch, sondern ein „individueller Machtanspruch“ des Einzelnen über sich selbst geschützt wird. Der Täter des § 240 StGB maßt sich und seinem Willen also eine gegenüber dem Opfer und dessen Willen höhere Position an und zwingt dieses dazu, sich so zu verhalten, wie er es will.

Was schützt § 240 StGB?

Nun besteht aber auch heutzutage Uneinigkeit darüber, worin genau der Schutzzweck des § 240 StGB zu sehen ist.((Überblick bei MüKo-StGB/Sinn, § 240 Rn. 5 ff. mit Nachweisen.)) Nach h. M. wird die Freiheit der Willensbildung und Willensbetätigung geschützt, anderen zufolge handelt es sich um ein Freiheitsverschiebungsdelikt, bei dem sich der Täter ein Mehr an Freiheit zum Nachteil des Opfers aneignet (Jakobs, Timpe), und wieder andere behaupten, der Tatbestand wolle vermeiden, dass das Opfer (bzw. sein Wille) als Werkzeug eines fremden Willens instrumentalisiert wird (Hruschka, Köhler, Sinn). Ungeachtet der Unterschiede im Detail verbietet die dem § 240 StGB zugrunde liegende Primärnorm aber jedenfalls, dass mich jemand zu einem Verhalten zwingt, das ich nicht will. Meine „Unabhängigkeit von eines anderen nötigender Willkür“ (Kant) soll gewährleistet werden. Denkt man den Gewaltbegriff vom Schutzgut des Nötigungstatbestands her, ist also primär maßgeblich, dass die Täterin einem anderen Menschen ihren Willen aufzwingt, indem sie ihn daran hindert, zu tun, was er tun will, und dazu zwingt, zu tun, was sie will. Ob dieses „Hindern“ im Schwerpunkt aktiv oder passiv erfolgt, mich die Täterin beiseite schubst oder mir ein schwer überwindbares Hindernis in den Weg stellt, ist dagegen irrelevant. Wichtig ist nur, dass beides durch körperliche Kraftentfaltung erfolgt und einen körperlich wirkenden Zwang verursacht. Wer mit dem Auto fährt, will mit dem Auto fahren und nicht anhalten, und schon gar nicht ein (berechtigtes!) politisches Signal für mehr Klimaschutz senden. Er wird daran aber gehindert und für (berechtigte!) klimapolitische Anliegen instrumentalisiert, wenn vor ihm andere Fahrzeuge halten, weil vor diesen wiederum die „Letzte Generation“ auf der Straße sitzt.

Gewalt und Drohung

Das deckt sich mit der Systematik des § 240 StGB. Eine Diskrepanz zum Nötigungsmittel der Drohung besteht, anders als Lengauer meint, nicht. Drohung ist das Inaussichtstellen eines künftigen Übels, auf das der Drohende Einfluss zu haben vorgibt.((Rengier, StrafR BT II, § 23 Rn. 39.)) Die beiden Nötigungsmittel würden in der Tat ununterscheidbar, wenn für Gewalt eine bloß psychische Zwangswirkung ausreichte. Aber wie gesehen geht es weder allgemein noch bei den Sitzblockaden um psychischen Zwang, sondern um ein Hindernis, das unüberwindbar ist und deshalb körperlich wirkt. Die gegenüber einem engeren Verständnis abgesenkten Anforderungen an den Kraftaufwand und an die (noch immer körperliche) Zwangswirkung beim hierzulande herrschenden Gewaltbegriff führen dazu, dass beide Nötigungsmittel das Opfer in ähnlich erheblicher Weise beeinträchtigen. Die Art und Weise, in der sich „passive Gewalt“ der Drohung annähert, spricht also nicht gegen, sondern für den hier verteidigten Gewaltbegriff.

Nötigung und andere Straftatbestände

Ergiebig ist auch der „Dunstkreis“ der Nötigung. § 239 StGB bestraft die Freiheitsberaubung, §§ 239a und 239b StGB bestrafen Beeinträchtigungen der Freiheit des Opfers und eine Vermögensgefährdung. Die letztgenannten Tatbestände verlangen hierzu u. a., dass der Täter sich eines anderen Menschen bemächtigt. § 241 StGB schließlich bestraft die Bedrohung mit einem Verbrechen. Nun liegt in einer Sitzblockade keine Freiheitsberaubung und aller populistischen Verlautbarungen zum Trotz schon gar keine Geiselnahme der Autofahrer. Aus dem systematischen Standort des § 240 StGB zwischen §§ 239, 239a, 239b StGB und § 241 StGB lässt sich jedoch – unterstellt man dem Strafrechtsgesetzgeber wohlwollend ein gewisses Gespür für systematische Zusammenhänge – schließen, dass sich der Nötigungstatbestand mit seinem Gewaltbegriff im Bereich zwischen Bedrohung auf der einen und Freiheitsberaubung, Menschenraub und Geiselnahme auf der anderen Seite bewegt und eine Art „Sichbemächtigen light“ verlangt, das nicht auf den Körper, sondern auf den Willen des Opfers und dessen Betätigung bezogen ist. Der von einer Sitzblockade betroffenen Autofahrerin bleiben noch andere Möglichkeiten des Fortbewegens. Die Ausführung ihres ursprünglichen Willensentschlusses ist ihr aber nicht mehr möglich, weil die Protestierenden ihr mit der „ersten Reihe“ Hindernisse in den Weg stellen, die sie nicht überwinden kann. Mit diesen Hindernissen zwingen die Teilnehmenden an den Sitzblockaden die Autofahrerin dazu, (wenn möglich) umzukehren, auszusteigen oder im Auto zu warten, bis die Blockade samt dem Kleber (auf‑)gelöst ist.

Sitzen ist keine Gewalt, Errichten einer Blockade schon

Jede Rechtsordnung hat ihre Eigenheiten und jedes Rechtsgebiet seine Kuriositäten. „Sitzen als Gewalt“ ist ein solches Kuriosum – wenn man das Problem auf diese Formel verkürzt. Bloßes Sitzen ist keine Gewalt. Das Errichten einer Blockade aber schon, und wenn die Blockade (vermittelt durch Dritte) gleichsam durch das Sitzen errichtet wird, lässt sich auch dieses unter den Gewaltbegriff subsumieren.

Mein Ziel war es, zu zeigen, dass die Zweite-Reihe-Rechtsprechung in Deutschland gerade keine Vergeistigung des Gewaltbegriffs darstellt. Nötigung ist strafbar, weil jemand einem anderen seinen Willen aufzwingt – körperlich durch Gewalt oder geistig durch Drohung. Nicht ein aktiver und aggressiver Angriff steht im Mittelpunkt des Gewaltbegriffs, sondern die Ausübung von körperlich wirkender Macht über einen anderen, und hierfür ist die Unterscheidung zwischen aktiv und passiv unerheblich. Gewalt ist daher jede körperliche Kraftentfaltung, die körperlich wirkenden Zwang ausübt, um geleisteten oder erwarteten Widerstand zu überwinden.((Rengier, StrafR BT II, § 23 Rn. 23.)) Hiervon sind auch Sitzblockaden erfasst, weil sie den Betroffenen mithilfe der „ersten Reihe“ unüberwindbare Hindernisse in den Weg stellen.