Das deutsche Gemeinwesen ist eine freiheitliche Ordnung, mit vielen –weithin akzeptierten, zum Teil aber auch beklagten und kritisierten – Ungleichheiten. Nichts Besonderes also. Manchmal aber bricht sich plötzlich und überraschend ein radikaler Egalitarismus Bahn. Seine beiden grundlegenden Prinzipien lauten:
1. Hauptsache, es sind alle gleich – und sei es um den Preis, dass es allen gleich schlecht geht.
2. Niemand ist für die Folgen seines Handelns verantwortlich – vor allem dann nicht, wenn diese nachteilig für ihn sind.
Den Rückfall in einen derartigen Steinzeitkommunismus kann man bevorzugt beobachten, wenn es um Gesundheit und Gesundheitsversorgung geht – das Gelände scheint derartig vermint zu sein, dass man in einer Mischung aus Vollkaskomentalität und extremer Differenzierungsaversion noch die absurdesten Konsequenzen hinzunehmen bereit ist, solange nur niemand „privilegiert“ oder „diskriminiert“ wird. Das ist übrigens parteiübergreifend zu beobachten; die Beschwörung der „Solidarität“ reicht hier von der CSU bis zur LINKEN.
So ist es jetzt auch beim Impfen: Eine ganz große Koalition ist sich darüber einig, dass es „unsolidarisch“ und eine „Spaltung der Gesellschaft“ wäre, wenn die bereits gegen das Coronavirus Geimpften die im Übrigen geltenden Beschränkungen nicht mehr auf sich nehmen müssten. Jetzt soll sogar privaten Dritten über das Antidiskriminierungsrecht verboten werden, Rechtsfolgen an den Impfstatus zu knüpfen.
Das ist alles schon auf den ersten Blick schräg: Die Beschränkungen, die mit der Ansteckungsgefahr begründet wurden, sollen auch gegenüber denjenigen, von denen diese Gefahr gar nicht mehr ausgeht, aufrecht erhalten werden, damit die anderen, noch nicht Geimpften das nicht „unsolidarisch“ finden und sich „benachteiligt“ fühlen? Vernünftig explizieren lässt sich das kaum, und so weicht man gerne auf Nebenkriegsschauplätze aus: Selbstverständlich macht die ganze Diskussion erst Sinn, wenn wir wissen, dass der Impfstoff nicht nur die Geimpften schützt, sondern auch die Übertragung des Virus verhindert. Damit konnte schon der Deutsche Ethikrat seine Stellungnahme zum Immunitätsausweis entschärfen. Da aber bisher – soweit ersichtlich – kein Impfstoff existiert, der nicht tatsächlich beides leistet, darf man hoffnungsfroh davon ausgehen, dass das wohl auch beim Corona-Impfstoff so sein wird – und in spätestens zwei, drei Monaten werden wir es definitiv wissen. Ebenfalls ein Ablenkungsmanöver ist der Einwand, dass die jetzt zuerst geimpften Heimbewohner höheren Alters kaum in Scharen in die Kinos und Restaurants werden laufen wollen. Abgesehen davon, dass hier ein Bild vom Alter gezeichnet wird, das in anderen Corona-Zusammenhängen heftig kritisiert worden ist: Was ist mit dem ärztlichen und Pflegepersonal, das auch bei der ersten Impfwelle dabei ist? Und das Impfen wird ja (hoffentlich) weiter gehen…
Solidarität?
Josef Franz Lindner hat auf diesem Blog bereits völlig zutreffend darauf hingewiesen, dass die gegen „Vergünstigungen“ für Geimpfte in Stellung gebrachte Vorstellung von Solidarität als „kollektive Selbstkasteiung“ äußerst gewöhnungsbedürftig ist. In der Sprache der Gleichheitstheorie wäre das ein Levelling-down, das in allen anderen Zusammenhängen brüsk zurückgewiesen würde. Auch in verfassungsrechtlichen Zusammenhängen ist es mehr als fraglich, ob das Ziel der Herstellung von Gleichheit eine Freiheitseinschränkung rechtfertigen kann, durch die es im Ergebnis niemandem besser geht. Im Rahmen der Gleichheitsdogmatik haben wir jedenfalls reine „Neidklagen“, durch die man seine Situation gar nicht verbessern kann, vernünftigerweise bisher nicht zugelassen. Soll Neidvermeidung jetzt aber als Rechtsgut zugelassen werden, das Freiheitseinschränkungen rechtfertigt? Man mag das nicht zu Ende denken.
Äußerst verwirrend ist auch das manchmal mitgeschleifte Argument, die Priorisierung der Impfung werde nicht akzeptiert, wenn die Geimpften sich nicht zurück- und weiterhin an die Corona-Beschränkungen halten. Auch das würde man ungern auf andere Zusammenhänge übertragen: Der Organempfänger darf sich seines Lebens nicht mehr so recht erfreuen, weil das den anderen auf der Warteliste nicht zumutbar ist? Probleme sollen da gelöst werden, wo sie anfallen: Entweder die Impfpriorisierung ist schief, dann muss man diese ändern. Oder sie ist in Ordnung – dann aber mit allen Konsequenzen.
Selbstverschulden?
Noch irritierender ist bei näherem Nachdenken ein Punkt, über den sich überraschenderweise fast alle einig zu sein scheinen: Dass man an das Geimpft-Sein erst dann Rechtsfolgen knüpfen darf, wenn alle die Möglichkeit haben, sich impfen zu lassen. Wem wir (noch) gar kein Impfangebot machen können, der soll sich eine „Benachteiligung“ auf keinen Fall gefallen lassen müssen.
Nun gerät plötzlich ein Aspekt der Eigenverantwortung oder des Verschuldens ins Spiel, der hier gar nichts zu suchen hat. Der Grund für die Corona-Beschränkungen ist die Ansteckungsgefahr, nicht die selbstverschuldete Ansteckungsgefahr. Dem Infektionsschutzrecht ist es zu Recht völlig gleich, warum jemand ansteckend ist und ob er etwas dagegen tun könnte oder nicht. Von dieser gefahrenabwehrrechtlichen Sichtweise kommt man nicht annähernd zu der Folgerung, dass man die Aufhebung der Freiheitsbeschränkungen anderer, die schon geimpft sind, kritisieren kann, weil man – und sei es auch aus Gründen, die man nicht beeinflussen kann – selbst noch nicht geimpft worden ist. Man hat ja auch noch nie gehört, dass eine Einreise, deren Zulässigkeit an das Vorliegen bestimmter Impfungen geknüpft ist, ausnahmsweise doch ohne diese Impfungen zugelassen wird, weil der Betroffene sich daheim gar nicht impfen lassen konnte, weil z.B. gerade kein Impfstoff vorhanden war. Noch weniger plausibel wäre es, in dieser Situation auch den ordnungsgemäß Geimpften die Einreise zu verbieten, damit sich der schuldlos nicht Geimpfte nicht diskriminiert fühlt.
Faktischer Impfzwang?
Dieser subkutane Einfluss des Arguments der Eigenverantwortung ist umso erstaunlicher, als es sofort darauf wiederum abgelehnt wird, dem Einzelnen etwas zuzuschreiben: Wenn sich jemand nicht impfen lässt und dann – anders als die Geimpften – an bestimmten Lebensvollzügen (zunächst) noch nicht teilnehmen kann, handele es sich dabei nicht um die völlig selbstverständliche Konsequenz seiner freien Entscheidung. Vielmehr werde dadurch ein „faktischer Impfzwang“ eingeführt. Das hat zuletzt der Bundesinnenminister vorgebracht. Besonders hervorgetan haben sich insoweit auch die Datenschutzbeauftragten, deren ganze Befürchtung darauf ausgerichtet ist, dass bloß niemand nach seinem Impfstatus gefragt wird – und gebe er auch noch so freiwillig darüber Auskunft, um z.B. Zutritt zu bestimmten Veranstaltungen zu erlangen. Deren Logik lautet: Anknüpfungen an den Impfstatus darf es schon allein deshalb nicht geben, weil man dann ja diesen Impfstatus offenbaren müsste, um in den Genuss bestimmter „Vorteile“ zu kommen – dann bleiben wir doch lieber gleich alle daheim. Vermutlich wird es zu den Aufräumarbeiten nach der Pandemie gehören, dass wir alle noch einmal sehr kritisch über dieses ganze Datenschutzthema und seine Protagonisten nachdenken (zu den datenschutzrechtlichen Fragen vgl. auch bereits hier).
Plausibel ist der Einwand des „faktischen Impfzwangs“ nicht. Kann der Impfverweigerer wirklich verlangen, dass er trotz Ansteckungsgefahr an den üblichen Lebensvollzügen teilnehmen kann und sich der Rest der Gesellschaft mit extrem aufwändigen Hygienekonzepten selbst um seine Sicherheit kümmert, damit er seine Impfskepsis ausleben kann? Vermutlich geht es hier um etwas ganz anderes: Die Politik hat immer versprochen, dass es bei Corona keinen Impfzwang geben wird, und hat nun Sorge, dass „Privilegien“ für Geimpfte ihnen von irgendwelchen selbsternannten „Querdenkern“ als Bruch dieses Versprechens vorgehalten werden. So bestimmen die Wahnsinnigen mittelbar doch noch die Politik.
Fazit
In der Diskussion über die selektive Aufhebung von Beschränkungen für diejenigen, von denen keine Ansteckungsgefahr mehr ausgeht, ist viel schief gelaufen. Natürlich sind hier etliche Praktikabilitätsfragen klug zu bedenken – wer etwa kontrolliert jeweils, ob die Immunität tatsächlich vorliegt? Aber die gesamte Diskussion zu beenden, weil man Angst vor Neid- und Impfzwangdebatten hat, ist abwegig. Damit wird eine „Spaltung der Gesellschaft“ erst herbeigeredet. Eine Legitimation für die Einführung oder Aufrechterhaltung von Freiheitsbeschränkungen ergibt sich daraus jedenfalls nicht.