17. März 2020

Hans Michael Heinig

Gottesdienstverbot auf Grundlage des Infektions­schutz­gesetzes

Verfassungsrechtliche Rechtfertigung und Grenzen

Auf Grundlage von § 28 des Gesetzes zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten beim Menschen haben die zuständigen Behörden flächendeckend zum Schutz der Bevölkerung vor der Verbreitung des Coronavirus SARS-CoV-2 Maßnahmen ergriffen, um den sozialen Kontakt im öffentlichen Bereich zu beschränken. Unter anderem wurden Kultureinrichtungen, Sportanlagen und Vergnügungsstätten geschlossen und Zusammenkünfte in Vereinen und Religionsgemeinschaften verboten. 

Untersagt sind damit auch die typischen Formen von Gottesdiensten und alle weiteren Versammlungen von Gläubigen. Private Veranstaltungen sind ab 50 Personen untersagt, Ansammlungen in der Öffentlichkeit ab 10 Personen. 

Vereinzelt hört man aus Kirchengemeinden Murren und Unverständnis. Die Kirche müsste doch gerade in Krisenzeiten für die Menschen da sein. Der Staat könne den Verkündigungsauftrag der Kirche nicht suspendieren. Besonders Erregte vergleichen die Situation gar mit dem Kirchenkampf im Nationalsozialismus – und setzen damit die Bundes- und Landesregierungen mit dem NS-Regime gleich. 

Wie abwegig solche Vergleiche sind, zeigt ein Blick zurück auf das Gründungsdatum unserer Verfassung. Im Parlamentarischen Rat gab es eine intensive Diskussion darüber, unter welchen Bedingungen die Religionsfreiheit eingeschränkt werden kann. Man war sich einig, dass der Schutz der Religionsfreiheit unter dem Grundgesetz weiter als in der Weimarer Reichsverfassung gehen soll. Zugleich stand allen damals die Notwendigkeit vor Augen, dass Einschränkungen nötig sein müssen. Explizit wurde das Seuchenschutzgesetz als notwendige Schranke der Religionsfreiheit genannt.

Doch Unverstand und Übereifer breitet sich auch in mancher Amtsstube aus: Es summieren sich die Berichte, dass Behördenvertreter auch die Aufnahme von Rundfunkgottesdiensten ohne Publikum untersagen wollen. Aussage eines Ordnungsamtes: „Gottesdienst ist Gottesdienst, ob sie den mit 50, 100, 200 oder auch nur mit zwei oder drei Menschen feiern. Und Gottesdienste sind bis auf Weiteres verboten.“ Solche Aussagen sind beunruhigend. Sie haben mit der in den Bundesländern erlassenen Allgemeinverfügung wenig zu tun. Denn verboten sind gerade nicht „Gottesdienste“, sondern „Zusammenkünfte“. So notwendig energische Maßnahmen gegen die weitere Ausbreitung der Viruserkrankung sind: Ungern befände man sich in einigen Wochen in einem Gemeinwesen wieder, das sich von einem demokratischen Rechtsstaat in kürzester Frist in einen faschistoid-hysterischen Hygienestaat verwandelt hat. 

Die jetzt vereinbarten Regelungen für „Zusammenkünfte in Kirchen, Moscheen, Synagogen und die Zusammenkünfte anderer Glaubensgemeinschaften, einschließlich der Zusammenkünfte in Gemeindezentren“ sind verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, wenn sie mit Augenmaß angewendet werden. Dann sind sie verhältnismäßig. Es handelt sich ja nicht um ein dauerhaftes Verbot, sondern um temporäre Maßnahmen, die einem gesundheitspolitisch nachvollziehbarem Plan folgen, um möglichst viele Menschenleben zu retten. Das Recht auf Leben nach Art. 2 Abs. 2 GG ist ein höchstrangiges Verfassungsgut, das auch Eingriffe in die Religionsfreiheit zu rechtfertigen vermag. Die Maßnahmen sind zudem in dem Sinne „neutral“ ausgestaltet, als sie sich nicht gegen eine bestimmte Religion und auch nicht gegen die Religion an sich richten. Andere Bereiche des sozialen Lebens sind in gleicher Weise betroffen. Zudem sind nur Zusammenkünfte untersagt; es steht den Religionsgemeinschaften frei, weiter öffentlich zu wirken, Seelsorge zu betreiben und auch Kultushandlungen durchzuführen. Die katholische Kirche wird weiter Messen abhalten, nur ohne Publikum. „Winkelmesse“ nennt der Volksmund das. Beide Kirchen weiten ihr Online-Angebot massiv aus. Wer Halt in Leben und Trost im Sterben sucht, kann ihn im Glauben finden – gerade in Ausnahmezeiten wie diesen. 

Deshalb sind aber auch Rundfunkgottesdienste ohne Publikumsbeteiligung von zentraler Bedeutung. Sie tragen zur Verhältnismäßigkeit bei. Die verhängten Maßnahmen zielen darauf, dass elementare Grundbedürfnisse der Menschen weiter befriedigt werden: Lebensmittelgeschäfte, Friseure, Baumärkte sind weiter geöffnet. Im Normalfall kommen Woche für Woche mehr Menschen in Gottesdienste als in Fußballstadien. Ihre religiösen Interessen sind zu beachten, soweit das infektionsschutzrechtlich vertretbar ist. Wenn der Normsetzer Ansammlungen bis zu 10 Personen erlaubt und private Zusammenkünfte bis zu 50 Personen, werden auch wohl auch ein Pfarrer und drei Kamerateams in einer leeren Kirche gestattet sein. Das Infektionsrisiko bei Aufnahmen in einem großen Kirchraum unter Wahrung körperlicher Distanz ist deutlich geringer als in einem beengten Fernsehstudio. 

Zulässig ist bislang auch, Gotteshäuser für ein individuelles Gebot zu öffnen, wenn hinreichende hygienische Vorkehrungen getroffen werden. Dann muss aber sichergestellt sein, dass sich immer nur wenige Personen (eben weniger als zehn) mit genügend Abstand im Kirchraum aufhalten. Das wird in der Praxis organisatorisch schwer umzusetzen sein.

Brisant ist schließlich die Frage, ob Bestattungen durchgeführt werden können. Eine würdevolle Grablegung ist vom postmortalen Persönlichkeitsrecht geschützt. Hier wirkt die Menschenwürde nach dem Ableben nach. Man kann Bestattungen im Rahmen der technischen Möglichkeiten eine Zeitlang aufschieben und sie auf den allerengsten Familienkreis begrenzen. Aber es wäre nicht hinnehmbar, die leiblichen Überreste Verstorbener teilnahmslos, „sang- und klanglos“, wie es im dreißigjährigen Krieg hieß, verscharren lassen zu müssen. 

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