22. März 2020

Stefan Huster

Grenzen der Solidarität

Auf den ersten Blick ist es einfach: Die Infektionskurve muss abgeflacht werden, damit nicht zu viele schwere Fälle auf einmal die Krankenhäuser fluten, die medizinische Versorgung zum Erliegen bringen und sich dadurch die Anzahl der Todesopfer des Coronavirus erhöht. Also muss durch soziale Isolation die Verbreitung des Virus verlangsamt werden. Ein Lockdown des gesamten Gemeinwesens mit seinen wirtschaftlichen und sozialen Folgen scheint akzeptabel zu sein angesichts der höchstrangigen Rechtsgüter, um deren Schutz es gehen soll. Diese Logik führt dann zu Pressemeldungen wie dieser

„Das Hamburger Verwaltungsgericht hat die Allgemeinverfügung des Senats zur Schließung von Einzelhandelsgeschäften in einem ersten Verfahren bestätigt. Das Gericht lehnte am Freitagabend den Eilantrag einer Besitzerin von mehreren Geschäften ab, die sich gegen die Schließung ihrer Filialen juristisch zur Wehr gesetzt hatte (Az.: 10 E 1380/20). Nach Auffassung des Verwaltungsgerichts sei dem Schutz der Gesundheit der  gesamten Bevölkerung als überragend wichtigem Gemeinschaftsgut der  Vorzug vor den wirtschaftlichen Interessen der Antragstellerin zu  geben, teilte ein Sprecher des Gerichts am Samstag mit.“

Eine Abwägung mit ähnlich klarem Ergebnis könnte man darstellen, wenn man den „Schutz der Gesundheit der gesamten Bevölkerung“ nicht nur den (immensen) wirtschaftlichen Schäden, sondern auch der Langeweile daheim oder den in geschlossenen Schulen und Universitäten unterbliebenen Bildungsinvestitionen gegenüberstellt. Also alles lästig, im individuellen Fall vielleicht sogar sehr hart, aber selbstverständlich hinzunehmen?

Ohne dass mutwilligen Corona-Partys in irgendeiner Weise das Wort geredet werden soll, kann man seine Zweifel daran haben, dass das alles so klar ist. Starten wir mit einer Aussage der Berliner Gesundheitssenatorin in einem Interview bei Spiegel Online

Kalayci: Unter manchen jungen Leuten herrscht nach wie vor eine Haltung nach dem Motto: „Dann infizieren wir uns halt, weil es für uns mit einem leichten Krankheitsverlauf dann auch vorbei ist.“ Nur garantieren kann ihnen das niemand! Und es geht auch um die Gemeinschaft, insbesondere um die eigene Oma, um ältere Menschen in der Nachbarschaft, die angesteckt werden können und deren Corona-Verlauf tödlich sein kann.  Aber es gibt auch die andere Seite Berlins: Viele junge Menschen sind sehr verantwortungsvoll, bieten sich an in der Nachbarschaftshilfe, zeigen sich sehr sozial. Diese solidarische Seite der Stadt gibt es auch.“

Unterstellen wir mal für einen Moment, dass die „manchen jungen Leute“ nicht ganz falsch liegen, dass ihnen selbst bei einer Infektion nicht viel passieren wird. Selbstverständlich kann es auch in dieser Altersgruppe schwere Fälle geben, aber das Risiko ist wohl sehr überschaubar, auch wenn man nichts „garantieren“ kann, aber wann kann man das schon. Deutlich anzusteigen scheint das Risiko in hohem Alter und bei bestimmten Vorerkrankungen. Die Frage aus Sicht nicht nur der „jungen Menschen“, sondern all derjenigen, die ein eher geringes Risiko für einen schweren Verlauf oder gar intensivmedizinischen Betreuungsbedarf haben (und das scheint der Großteil der Bevölkerung zu sein): Was kann man von mir und uns eigentlich verlangen, wenn es im Kern gar nicht um den Schutz meiner Gesundheit geht, sondern um die „Gemeinschaft, insbesondere um die eigene Oma, um ältere Menschen in der Nachbarschaft“. Es wäre vielleicht nett („sehr verantwortungsvoll“, „sehr sozial“), dass ich mir zugunsten der Oma, die ich evtl. selbst gar nicht mehr habe, und der älteren Menschen, die ich gar nicht kenne, allerlei Einschränkungen gefallen lasse, aber hat das nicht seine Grenzen? Kann ich keine Einwände erheben, wenn ich dafür monatelang mit einer Ausgangssperre belegt werde? Oder wenn meine berufliche Existenz, die ich mir gerade mühsam aufgebaut habe, ruiniert wird?

Rein tatsächlich wird es so sein, dass die Mehrheit der Bevölkerung massive Einschränkungen über lange Zeit mit erheblichen wirtschaftlichen und sozialen Konsequenzen nicht mittragen wird, wenn sie (zu Recht) den Eindruck hat, dass sie selbst davon gar keinen großen Vorteil hat, sondern nur bestimmte Teile der Bevölkerung, die „Risikogruppen“. Das ist aber nicht nur die simple politische Logik der Situation, sondern hat auch seine normative Berechtigung: Die Aufopferungspflicht zugunsten Dritter endet irgendwann. 

Zumal der nicht zu einer Risikogruppe gehörige Bürger auch Folgendes bemerkt: Zunächst glaubt er der „Solidarität“- und „Höchstwert Leben“-Rhetorik der Gerichte und Politiker ziemlich schnell nicht mehr, wenn er mitbekommt, dass die allermeisten Versterbenden hochbetagt und mit allerlei Vorerkrankungen versehen sind und bei einer Grippe-Epidemie auch „vorzeitig“ versterben würden, ohne dass jemand daran dächte, das ganze Land herunterzufahren. Gewiss: Gegen die normale Grippe kann man sich impfen lassen, und es gibt gegen sie auch Medikamente. Trotzdem hat es eine andere Dramatik, wenn Kinder und Durchschnittsbürger dahingerafft werden, als wenn es im Wesentlichen hochbetagte und kranke oder altersschwache Mitbürger trifft. Jedes Leben ist gleich viel wert, aber dass das Gemeinwesen die gleiche Energie aufwenden und Entbehrungen in Kauf nehmen muss, um 95jährigen noch weitere zusätzliche Monate oder Jahre zu verschaffen, als wenn es um die Rettung des Lebens des Durchschnittsbürgers geht, ist eine arge Zumutung für den gesunden Menschenverstand. 

Ferner wird man darauf hinweisen dürfen, dass die Angehörigen der Risikogruppen nicht ganz so wehrlos sind, wie gelegentlich unterstellt wird. Gertrude Lübbe-Wolff hat in ihrem Kommentar zu Uwe Volkmanns Beitrag in diesem Blog zu Recht darauf hingewiesen, dass es geboten sei, dass sich die „einschneidenden Restriktionen (…) auf Ruheständler und ggf. andere spezielle Risikogruppen konzentrieren.“ Wir sollten ihnen beim Einkauf usw. helfen, wo wir können (z.B. durch Einkaufshilfen oder für sie reservierte Besuchsstunden in den Geschäften) – aber es ist absurd, dass wir das gesamte Land stilllegen, damit ersichtlich gefährdete Rentnerehepaare die Supermärkte besuchen, sich dort anstecken und dann noch ein Beatmungsgerät finden können, anstatt daheim bleiben zu müssen. Zumal und schließlich diese gesamte Eindämmungspolitik – auch das ist inzwischen häufig festgestellt worden – eine Durchseuchung und Immunisierung der Gesellschaft verhindert, so dass die Einschränkungen zum Schutz der Risikogruppen noch länger aufrechterhalten werden müssen. 

Es gibt vermutlich einen Aspekt, der auch diejenigen beeindruckt, die nicht zu einer Risikogruppe gehören. Das sind nicht die gefährdeten Menschenleben, sondern die drohenden „italienischen Verhältnisse“ in den Krankenhäusern. Es ist nicht der Umstand, dass manche Menschen sterben werden, der viele umtreibt, sondern es sind die Rahmenbedingungen und Begleiterscheinungen dieses Vorgangs: die Notwendigkeit von Triage-Entscheidungen, die normative Selbstverständlichkeiten in Frage stellen; Videos von überfordertem und weinendem Klinikpersonal, dem gegenüber man ein schlechtes Gewissen bekommt, das man durch Applaus vom Balkon zu besänftigen versucht; Geschichten von Menschen, die auf Intensivstationen ohne ihre Familienangehörigen sterben müssen; der Zusammenbruch der sonstigen medizinischen Versorgung. Am Ende ist es eine ähnliche Logik wie in der Flüchtlingspolitik: Wir ertragen viel, aber keine Bilder von Elend und leidenden Menschen. Bei realistischer Betrachtung geht es dabei gar nicht um sozialstaatliche Solidarität, sondern um unsere Sorge, dass die normativen Grundgerüste unserer Gesellschaft, „unsere Werte“ gerade dementiert werden. Wir verteidigen hier rechtsstaatliche Grundfesten gegen drohende Verrohungstendenzen. 

Diese Beobachtung kann die Absicht, die „italienischen Verhältnisse“ vermeiden zu wollen, nicht diskreditieren – im Gegenteil. Und vermutlich werden viele vieles mitmachen, wenn es dafür erforderlich ist. Dies gilt aber nur, wenn man die vorrangig gefährdeten Risikogruppen nicht selbst in die Pflicht nehmen kann. Nach dem Gesagten sollte es selbstverständlich sein, dass wir dabei den Angehörigen dieser Risikogruppen nicht die freie Entscheidung überlassen können, ob sie sich gefährden mögen oder nicht: Wir verteidigen nicht ihre Leben gegen sie, sondern vermeiden die „italienischen Verhältnisse“ oder offene Behandlungsverweigerungen in unserem Interesse!

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