Nach über 18 Monaten Pandemie hat der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) in einer seiner ersten substantiellen Entscheidungen zum Infektionsschutzrecht eine Reihe von Verfassungsbeschwerden gegen die sogenannte „Bundesnotbremse“ zurückgewiesen. Insbesondere sind nach dem Beschluss auch „umfassende Ausgangsbeschränkungen“ verfassungsgemäß, wenn auch „nur in einer äußersten Gefahrenlage“ (Leitsatz 3 c).

Nach der Entscheidung ist es also verfassungsrechtlich zulässig, eine an sich ungefährliche Ausübung der körperlichen Bewegungsfreiheit zu verbieten, wenn dieses Verbot als Teil eines nicht offensichtlich wirkungslosen Gesamtkonzepts die Durchsetzung einer anderen Maßnahme des Gesundheitsschutzes erleichtert – und das unmittelbar per Gesetz, also ohne gerichtlichen Rechtsschutz. Kann das richtig sein – und wo führt das hin?

„Nichts spricht dafür“

In die Freiheit der Person nach Art. 2 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. Art. 104 Abs. 1 GG soll laut dem BVerfG unmittelbar durch Gesetz eingegriffen werden können. Die Begründung (Rn. 267-273) ist kurz und nahezu frei von Verweisen auf bisherige Rechtsprechung oder gar auf Entscheidungen anderer Gerichte. Der Wortlaut „auf Grund eines (förmlichen) Gesetzes“ wird für nicht „zwingend“ erklärt, gestützt durch einen selektiven Vergleich nur mit Art. 10 Abs. 2 Satz 1 GG, also nicht auch anderen Artikeln (Rn. 269). Es folgen dünne entstehungsgeschichtliche Ausführungen, die „kein klares Bild“ zeichnen (Rn. 270).

Im Kern steht eine teleologische Argumentation (Rn. 271 f.), die sprachlich auffällig und in der Sache wenig überzeugend ist: Die Freiheit der Person schützt nicht „nunmehr“, also erst seit dieser Entscheidung auch vor staatlichen Eingriffen ohne körperliche Zwangswirkung; „nichts spricht dafür“ gehört eher in anwaltliche Schriftsätze; der Gesetzgeber „wird“ nicht durch die Entscheidung „selbst unmittelbar an dieses Grundrecht gebunden“, sondern ist es ohnehin nach Art. 1 Abs. 3 GG; Gebrauch „von der vorgesehenen Beschränkungsmöglichkeit“ würde das Parlament gerade auch machen, wenn es eine Behörde zu einem entsprechenden Vollzugsakt befugte; dass „kein mit dem Schutzzweck der Schranken unvereinbarer Verlust an Rechtsschutz“ drohe, ist nicht mehr als eine These – zumal ein Verlust an Rechtsschutz ja offenkundig ist.

Insgesamt ist das nicht im prüfungsrechtlichen Sinne falsch, aber deutlich weniger plausibel als die Argumentation von Tristan Wißgott – die nicht einmal zitiert wird.

Kontrolle mit Wirkung

Die Entscheidung hält sodann die Freiheitsbeschränkungen als Maßnahmen von „erhebliche[r] Eingriffsintensität“ und mit „außerordentlicher Streubreite“ für verhältnismäßig (Rn. 274-303). Dabei wird zwar erwähnt, dass Ausgangsbeschränkungen lediglich Instrumente „der Kontrolle und Förderung der Einhaltung der […] Kontaktbeschränkungen“ (Rn. 275) sind. Weil das Verlassen der Wohnung selbst nicht infektiös sein kann, tragen Ausgangssperren bekanntlich allenfalls mittelbar zur Eindämmung des Pandemiegeschehens bei, indem sie private Zusammenkünfte zeitlich begrenzen und erschweren können. Während Kontaktbeschränkungen immerhin ein Verhalten betreffen, das in den allermeisten Fällen nicht zu einer Übertragung des Virus führt, aber in wenigen Fällen eben doch, verbieten Ausgangssperren eine Grundrechtsausübung, deren Irrelevanz für das Pandemiegeschehen von vornherein feststeht.

Eine auch nur angedeutete verfassungsrechtliche Grenze für eine derartige Vorverlagerung – entsprechend der polizeirechtlichen Gefahrenschwelle – zieht das BVerfG nicht. Die Problematik scheint dem Beschluss verborgen zu bleiben, denn alles ist danach gesetzgeberischer Einschätzungsspielraum, solange (vermeintlich) „flankierende“ Maßnahmen nicht „offensichtlich wirkungslos oder gar kontraproduktiv“ (Rn. 279) sind. Eine Parlamentsmehrheit, die eine solche Prüfung nicht bestünde, müsste sich schon sehr ungeschickt anstellen. Offenbar haben sich damit die Betrachtungsweisen epidemiologischer Modellierungen durchgesetzt, wonach Ausgangssperren die Reproduktionszahl absenken können, und soll es verfassungsrechtlich auf die Verantwortlichkeit der Betroffenen gar nicht mehr ankommen. Leider ist nicht einmal klar, dass das BVerfG nur für eine „äußerste Gefahrenlage“ (Rn. 305) im Bereich des Infektionsschutzes derart weiche freiheitrechtliche Standards vertritt – Übertragungen auf das Feld der „Inneren Sicherheit“ könnten zu befürchten sein.

Vorgaben für die Auswahl der Mittel, die das gesetzgeberisch verfolgte Gesamtziel erreichen sollen, macht das BVerfG insgesamt nicht. Dabei war hier der Missstand mit Händen zu greifen, dass Ausgangssperren das Privatleben noch breiter und tiefer als andere Maßnahmen beeinträchtigten, ohne dass zugleich im Arbeitsleben auch nur halbwegs effektive Maßnahmen gegen deutlich riskantere Verhaltensweisen getroffen worden wären (beispielsweise durch strengere Masken- und Home-Office-Pflichten für Unternehmen). Der Beschluss verengt stattdessen künstlich den Blick darauf, „ob auf das Element der Ausgangsbeschränkung[en] hätte verzichtet werden können, ohne das übergeordnete Ziel der Kontaktbeschränkungen insgesamt zu gefährden“ (Rn. 282). Das ist die falsche, jedenfalls eine bislang an dieser Stelle der Verhältnismäßigkeitsprüfung ungewöhnliche Frage – so verstanden, dürfte kaum je etwas nicht erforderlich sein.

Im Übrigen fällt nicht nur die angekündigte Überprüfung der Verhältnismäßigkeit des Gesamtkonzepts (Rn. 290) letztlich flach: Die Situationen der Beschwerdeführenden oder andere typische Fallkonstellationen werden im Rahmen der Verhältnismäßigkeit nicht einmal kursorisch betrachtet. Damit bleibt wenig übrig vom Individualrechtsschutz gegen das selbstvollziehende Gesetz.

Nachts ist es freier als draußen

Wen, außer vielleicht Joggerinnen wie Claire Underwood, beeinträchtigen denn nächtliche Ausgangssperren, wenn es Ausnahmen gibt für Notfälle und andere berechtigte Zwecke – bis hin zum Gassigehen mit dem deutschen Lieblingshaustier? Die Frage so zu stellen, hieße die Rechtfertigungsbedürftigkeit staatlicher Freiheitsbeschränkungen aufzugeben. Es bleibt nur zu hoffen, dass das BVerfG mit seiner Entscheidungsbegründung nicht dazu beiträgt, den während der Pandemie ohnehin grassierenden „Not kennt kein Gebot“-Illiberalismus weiter zu befördern.

 

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