Ich will nicht gezwungen werden können, mich zu erkennen zu geben, sobald ich mein Haus verlasse. Ich will, wenn mir danach ist, mein Gesicht verbergen, eine große Sonnenbrille aufsetzen, einen Schal um mein Gesicht schlingen und unerkannt herumlaufen dürfen. Mir ist die Vorstellung ganz unerträglich, dass mir das verboten sein soll. Darauf bestehe ich. Das ist mein Recht.
Und deshalb entsetzt mich – ganz unabhängig von den religions-, gender- und sicherheitspolitischen Aspekten, die es aufwirft – das jüngste Urteil des belgischen Verfassungsgerichtshofs in Sachen Burkaverbot zutiefst.
Das belgische Burkaverbot ist (wie auch das französische) ein, wie wir Bayern sagen, richtig hinterfotziges Stück Gesetzgebung. Es bedroht jeden mit Geld- oder Haftstrafe, der sich an öffentlich zugänglichen Orten ganz oder teilweise das Gesicht verhüllt, so dass er/sie nicht mehr erkannt werden kann. Ganz neutral. Geht gar nicht speziell gegen Muslime. Gilt ja für jeden. (Also dann wohl auch für Pussy Riot, sollten die nach ihrer Haftentlassung mal einen Gastauftritt in St. Gudule planen.)
Nach den Feststellungen des Verfassungsgerichtshofs stützt sich dieses Verbot auf drei Argumente: Öffentliche Sicherheit, Gleichheit von Mann und Frau sowie etwas, das ich seiner frankophonen Schönheit wegen unübersetzt zitieren möchte, nämlich
une certaine conception du « vivre ensemble » dans la société.
Zu den ersten beiden Aspekten mache ich es kurz:
Öffentliche Sicherheit heißt in diesem Zusammenhang, dass, wer sich verbirgt, verdächtig und womöglich ein potenzieller Terrorist ist. Wenn Polizisten träumen, dann träumen sie von einer Welt, wo sie mit so einem Argument durchkommen. Die Anti-Islam-Hysterie beschert ihnen ein seliges Aufwachen, und der belgische Verfassungsgerichtshof zupft die Harfe dazu.
Gleichheit von Mann und Frau heißt in diesem Zusammenhang, dass verschleierte Frauen dann halt hinter verriegelter Tür zu Hause bleiben müssen. Mit dieser gottgefälligen Gesetzesfolge wird der salafistische Ehemann sicher das allergeringste Problem von allen haben. Ein Riesenerfolg für die Gleichheit der Geschlechter, den der belgische Gesetzgeber da erzielt und nach der belgischen Verfassung, so die Verfassungsrichter, auch erzielen durfte:
l’égalité des sexes, que le législateur considère à juste titre comme une valeur fondamentale de la société démocratique, justifie que l’Etat puisse s’opposer, dans la sphère publique, à la manifestation d’une conviction religieuse par un comportement non conciliable avec ce principe d’égalité entre l’homme et la femme.
Damit wären wir beim Kern der Sache, dem „vivre ensemble“.
Die Argumentation des Verfassungsgerichts scheint mir in nuce (mit allerhand leeren Pompositäten wie „valeurs essentielles“, „bésoin social impérieux dans une societé démocratique“ etc. aufgebrezelt) diese zu sein: Das Gesicht gehöre notwendig zur Individualität einer Person dazu. Ohne die Sichtbarkeit des Gesichts sei diese Individualität „gar nicht begreifbar“ (ne peut se concevoir). Wer sich von seiner individuellen Freiheit, seine Religiosität auszudrücken, durch Verhüllen des Gesichts Gebrauch mache, begibt sich also gleichsam in Widerspruch zur Bedingung seiner Individualität selbst.
Das ist alles sozialantropologisch sicher höchst faszinierend, aber trotzdem ein rechter Schmarren. Natürlich gehört es genauso zu meiner Individualität dazu, die Grenzen meiner Individualisierbarkeit bestimmen zu können. Ich kann mich in schrille Klamotten werfen oder grau bis zur Unkenntlichkeit anziehen. Ich kann in einer Bar alle Gäste anquatschen oder stumm und finster allein mein Bier trinken. Ich kann fröhlich und kommunikativ durch den Park laufen oder als anonym beobachtender Niemand. Und natürlich kann ich, ohne mich im Mindesten in Widerspruch zu mir selbst zu begeben, mit meiner Kleidung, mit meiner Miene oder mit was auch immer zum Ausdruck bringen: Ich will bitte schön hier und jetzt und von Euch nicht individualisiert werden.
Oder, mit anderen Worten: Auch ein verhülltes Gesicht ist ein Gesicht.
Dass der Verfassungsgerichtshof das leugnet und stattdessen bereitwillig erklärt, die Gesellschaft dürfe legitimerweise jedem, der sich in ihr bewegt, die Sonnenbrille von der Nase reißen, finde ich entsetzlich.
Ich kann mir nicht vorstellen, dass das Gericht diese Argumentation genauso einleuchtend gefunden hätte, wenn es nicht um Burkas, sondern um, sagen wir mal, Kapuzenpullis oder Mundschutzmasken gegangen wäre. Aber das macht die Sache kein bisschen besser.