24. Februar 2013

Alexandra Kemmerer

Im Fegefeuer des Rechts: Lorenzo Zucca über „A Secular Europe“

Etwas Infernalisches hatte er mitunter schon, der Konflikt zwischen religiösen und nicht-religiösen Stimmen in der Beschneidungsdebatte, mit dem der Streit um das angemessene Verhältnis von Religion und Recht, von individueller und kollektiver Religionsfreiheit in diesem Sommer neue Intensität erreichte. Der in London lehrende Verfassungsrechtler Lorenzo Zucca dachte allerdings noch gar nicht an den Streit um ein Verbot der Zirkumzision aus religiösen Gründen, als er in seiner Schrift über Recht und Religion in der „europäischen Verfassungslandschaft“ das neuerliche Aufflammen hitziger Religionskonflikte im alten Europa als Dantesches Inferno charakterisierte. In der Debatte um Kopftuch und Kruzifix in bayerischen und italienischen Klassenzimmern, im Streit um die dänischen Mohammed-Karikaturen, das irische Abtreibungsverbot  und um die Anwendung der Scharia in Großbritannien sieht er die Gefahr unüberbrückbarer gesellschaftlicher Spaltungen, die nationale Gemeinwesen dauerhaft zu polarisieren drohen.

Der von Zucca vorgeschlagene Notausstieg aus der Hölle des ungezügelten Pluralismus klingt kaum weniger dramatisch. Europa (nicht nur die EU, sondern das erweiterte Europa der 47 Mitgliedstaaten des Europarats) könne ein veritables Purgatorium sein, das einen Ausweg aus dem Inferno der innerstaatlichen Religionskonflikte eröffne: „Die supranationale und internationale Ebene ermöglicht eine gewisse Reinigung von der nationalen Erfahrung, auch wenn sie ihre eigenen Herausforderungen mit sich bringt“. Zucca sieht vor allem den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in der Pflicht, den Staaten größeren Respekt für die Verschiedenheit ihrer Bürger abzuverlangen. In seiner vielbeachteten Entscheidung „Lautsi“ , in der sich der EGMR mit dem Kruzifix in italienischen Klassenzimmern befasste, habe der Straßburger Gerichtshof aber die Chance verpasst, einen „inklusiven Säkularismus“ auszubuchstabieren, der den Religionen einen Platz im Klassenzimmer und im öffentlichen Raum bietet und zugleich Toleranz und Vielfalt fördert. Zucca gesteht zu, dass die Staaten ihr je eigenes religionsverfassungsrechtliches Arrangement treffen, fordert aber von den Gerichten im europäischen Verfassungsraum klare Standards und präzise Begründungsarbeit statt gebetsmühlenhafter Beschwörungen des  nationalen Beurteilungsspielraums (margin of appreciation).

Mit seinem Konzept eines „inklusiven Säkularismus“ formuliert Lorenzo Zucca eine über Fragen der religiösen Differenz hinausgehende Forderung nach maximaler Vielfalt und Pluralität in den Grenzen einer einheitlichen Rechtsordnung. Das hört sich sehr nach dem von Charles Taylor entwickelten Modell einer liberal-pluralistischen, „offenen“ Laizität an, das der kanadische Philosoph dem republikanischen Modell einer konsequenten Verdrängung aller Erscheinungsformen der Religion aus dem öffentlichen Raum gegenüberstellt. Und es unterscheidet sich von einem „aggressiven Säkularismus“, der Religion in den Bereich des Privaten verbannen will und den Zucca von András Sajó, dem ungarischen Richter am Straßburger Menschenrechtsgerichtshof, repräsentiert sieht.  „Ein säkularer Staat soll religiöse Stimmen nicht zum Schweigen bringen, er soll ihre Beteiligung am öffentlichen Diskurs ermöglichen.“

Anders als Charles Taylor aber will Zucca keine Rücksicht nehmen auf bestehende historische und kulturelle Prägungen. Sein „inklusiver Säkularismus“ soll die europäischen Gesellschaften zukunftsgewandt zu größerer Vielfalt transformieren. Wer Vergangenheit und Herkunft thematisiert, wird von Zucca unversehens als „rückwärtsgewandt“ kritisiert. Dabei zielt seine Kritik vor allem auf den in New York lehrenden Europarechtler Joseph Weiler, der im Herbst als neuer Präsident des Europäischen Hochschulinstituts an seine Alma Mater in den Hügeln über Florenz zurückkehren wird. Weilers deskriptiv-normative Idee eines „christlichen Europa“ hat manche Schwächen. Letztlich geht es aber auch ihm nicht um identitäre Homogenität, sondern um einen reflektierten Umgang mit gesellschaftlicher Differenz, die sich vielstimmig selbstbewusst artikuliert.

Ist es, wie Zucca diagnostiziert, Ausdruck kleinmütiger Angst vor Vielfalt und Verschiedenheit, wenn wir uns vergewissern, wo wir als Gesellschaften herkommen? Wer wir sind? Wie wir mit Traditionen und historischen Prägungen umgehen? Gerade wenn man, wie der Autor, Religion als potentielle Bedrohung individueller Autonomie ansieht, verdient sie als gesellschaftliches Phänomen sorgfältige historische Kontextualisierung. Es ist eine recht eigenwillige Interpretation, aus den Folgen des Augsburger Religionsfriedens und der Friedenspakte von Münster und Osnabrück die vollständige Ausformung nationaler und religiöser Homogenität in Europa abzuleiten. Das Zeitalter der Reformation kultivierte mittelfristig im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation einen Umgang mit konfessioneller Differenz, der Koexistenz und Toleranz ermöglichte. Wenn man aus supranationaler Halbdistanz Religionskonflikte auf nationaler Ebene befrieden will, muss man eine größere Bandreite an Gesellschaften und deren historische Entwicklung vor Augen haben als nur Großbritannien, Frankreich, Italien und den Vatikanstaat.

Der begriffliche Wandel vom Staatskirchenrecht zum Religionsverfassungsrecht jedenfalls, den Lorenzo Zucca vehement einfordert, hat in Deutschland längst stattgefunden. Ob wir ein einheitliches europäisches Modell eines „inklusiven Säkularismus“ brauchen, das sich von historischen Prägungen ablöst und nur auf gegenwärtige Konstellationen schaut, lässt sich mit guten Gründen bezweifeln. Entscheidend ist, dass die supranationale und internationale Ebene einen erweiterten Reflexionsraum eröffnen und uns herausfordern, neu und aus informierter Distanz über unsere hergebrachten Vorstellungen und etablierten Modelle nachzudenken.

Lorenzo Zucca, „A Secular Europe“. Law and Religion in the European Constitutional Landscape, Oxford University Press, Oxford 2012, 210 S., geb., 50.- £.

Diese Rezension erschien zuerst in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 24. Januar 2013 (Nr. 20), S. 30.

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