29. März 2013

Maximilian Steinbeis

Islands Verfassungsexperiment ist so gut wie gescheitert

Das wohl ambitionierteste Demokratieexperiment der jüngeren europäischen Verfassungsgeschichte hat vorläufig sein Ende gefunden – und kein gutes. Das Parlament wird in dieser Legislaturperiode, die Ende April endet, nicht mehr über den Entwurf des Verfassungsrates abstimmen. Damit sind die Chancen, dieses einzigartige Experiment tatsächlich zum Erfolg zu führen, auf nahezu Null gesunken.

Noch mal in aller Kürze die Vorgeschichte (ausführlicher hier und hier): Nach der nationalen Katastrophe der Finanzkrise 2008 hatten die Isländer ihre Regierung gestürzt und eine neue linke Regierung an die Macht gebracht, die versprach, die Verfassungsgrundlagen des Landes zu erneuern, und zwar durch das Volk selbst: Die gut 300.000 Isländer wählten aus ihrer Mitte 25 Vertreter, die im Konsens einen Entwurf ausarbeiteten. Im Oktober ergab eine konsultative Volksabstimmung, und zwar mit konfortabler Zweidrittelmehrheit bei mehr als respektabler Wahlbeteiligung, dass dieser Entwurf zur Basis der neuen Verfassung des Landes gemacht werden sollte.

Damit sollte die seit Jahrzehnten geforderte und nie geglückte Verfassungsreform den politischen Eliten aus der Hand genommen und direkt dem Volk anvertraut werden. Das Problem dabei war aber, dass die Verfassungsreform in den geordneten Bahnen des existierenden Verfassungsrechts stattfinden sollte. Und das sieht vor, dass Verfassungsänderungen vom Parlament beschlossen und nach dessen Selbstauflösung und Neuwahlen vom neuen Parlament bestätigt werden müssen. Das heißt, das letzte Wort behält das politische Establishment.

Und dieses letzte Wort wurde gestern in den frühen Morgenstunden gesprochen. Nach monatelanger Obstruktion durch die konservative Unabhängigkeitspartei (die bis 2008 fast durchgängig die Macht innehatte und das ganze Verfassungsexperiment schon immer höchst überflüssig fand) einigte sich jetzt die wackelige und unpopuläre Regierungsmehrheit mit der Opposition, nicht mehr über den Entwurf des Verfassungsrates abzustimmen.

Nominell bleibt der Regierungskoalition das Eingeständnis, die ganze Verfassungsreform kollossal gegen die Wand gefahren zu haben, dadurch erspart, dass dafür jetzt das Verfahren der Verfassungsänderung reformiert werden soll: Statt doppelter Parlamentsmehrheit und Neuwahlen dazwischen soll künftig ein Zweidrittelmehrheitsbeschluss im Parlaments mit anschließendem Referendum nötig sein, um die Verfassung zu ändern – und bei dem Referendum müssen nicht nur mehr als 50% der Teilnehmer, sondern auch mindestens 40% der Wahlberechtigten mit Ja stimmen.

Thorkell Helgason,  Ex-Mitglied des Verfassungsrats, schrieb mir gestern per Email:

Diese faule Verfassungsänderung wurde beschlossen im Parlament heute Nacht um 2 Uhr mit 25 Ja-Stimmen gegen 2 Nein-Stimmen, die restlichen  36 Abgeordnete haben sich entweder der Stimme enthalten oder waren (bewusst) abwesend.

Verfassungsfragen sind keine Dinge, die die Menschen in großer Zahl mobilisieren. Ein Verfassungsreferendum, das 40% Wahlbeteiligung erreicht, ist schon toll. Bei dem isländischen Referendum im Oktober lag die Wahlbeteiligung bei 48,7%, und das war schon viel mehr, als die meisten erwartet hatten.

Das heißt, die Isländer können auf den Tag, da das Resultat ihrer Bemühungen um ihre Verfassung rechtlich Wirklichkeit wird, warten, bis sie schwarz werden.

Dazu kommt, dass die Umfragen im Moment für die Parlamentswahlen Ende April die Rückkehr der alten Regierungsparteien an die Macht vorhersagen. Die haben kein Interesse daran, an dem Zustand, der 2008 in die Katastrophe geführt hat, strukturell etwas zu ändern. Und sie haben auch kein Interesse daran, die Verfassungsgrundlagen, die ihre Macht über so lange Zeit legitimiert haben, auszutauschen. Der gestrige Kompromiss erspart ihnen sogar noch, dafür politisch die Verantwortung übernehmen zu müssen.

Das ist alles ziemlich deprimierend.

Aber wer weiß: Vor dem Referendum hatte ich auch nie geglaubt, dass sich die Isländer in solcher Zahl für die Verfassungsabstimmung mobilisieren lassen würden. Thorvaldur Gylfason, Ex-Mitglied des Verfassungsrats und der Wortführer der Reformbefürworter, will auf einer neuen Liste für das Parlament kandidieren. Vielleicht gelingt es ihm und seinen Mitstreitern, auf politischem Wege noch etwas zu erreichen.

Update: Wie ich gerade sehe, hatte Anfang März die Venedig-Kommission, die verfassungspolitische Monitoringstelle des Europarates, empfohlen, angesichts vieler nicht hinreichend klar formulierter Passagen im Verfassungsentwurf das Verfahren für Verfassungsänderungen zu vereinfachen und es dem nächsten Parlament zu überlassen, die Verfassungsreform unter diesen neuen Bedingungen voranzutreiben. Das dürfte eine Rolle gespielt haben bei der Kompromissfindung zwischen Regierung und Opposition. Allerdings ist in dem Papier der Venedig-Kommission nicht von der prohibitiv hohen Schwelle von 40% der Wahlbeteiligten die Rede.

Schreibe einen Kommentar