Viele Sicherungsverwahrte müssen bis spätestens 31. Dezember 2011 entlassen werden, sofern er oder sie nicht konkret nachweisbar extrem gefährlich oder „psychisch schwer gestört“ ist.
Das hat das BVerfG im Mai spektakulärerweise entschieden. Die Instanzgerichte haben’s vernommen und machen sich an die Arbeit, diese Vorgaben umzusetzen. Jetzt sieht sich eine Kammer des Zweiten Senats veranlasst, ein paar Feinjustierungen vorzunehmen.
Das betrifft zum einen den Umgang mit der Frist bis zum 31. Dezember. Das OLG Hamm hatte im Juni die Freilassung eines Betroffenen angeordnet, aber nicht sofort, sondern erst nach gründlicher „Vorbereitung“. Das OLG wollte offenbar die Frist bis zuletzt ausschöpfen, bevor es den Mann wieder frei herumlaufen lässt: Bis kurz vor Weihnachten sollte er jedenfalls noch hinter Schloss und Riegel bleiben.
Das geht nicht, so die Kammer: Wenn der Mann unverzüglich freizulassen ist, dann ist er unverzüglich freizulassen und nicht erst sechs Monate später.
Dieser Ansage fügt die Kammer allerdings noch ein längliches und bemerkenswert umstandslos eingeführtes Obiter Dictum nach dem Motto „Da wir gerade über Sicherungsverwahrung reden“ bei. Es geht um den Begriff „psychisch gestört“ und wie er auszulegen ist. Danach hatte das BVerfG zwar niemand gefragt, und es handelt sich ja auch nicht eigentlich um eine Frage des Verfassungsrechts, aber an solchen prozessualen Kinkerlitzchen stört sich in Karlsruhe schon lange kein großer Geist mehr.
Das OLG Hamm war nämlich auf Basis eines Gutachtens zu dem Schluss gekommen, dass man bei dem Mann nicht von einer psychischen Störung reden könne. Er sei gefährlich, das ja: Der Mann ist ein mitleidloses Monster, unfähig zu jeder Empathie mit seinen Opfern. Aber ihn selbst beeinträchtige das in keiner Weise. Oder wie der Gutachter es formuliert:
Psychisch gestört zu sein, heiße aber, dass ein Gestörter an sich selbst leide und an seinen mangelnden Lebenskompetenzen scheitere. Der Beschwerdeführer bleibe jedoch in allem, was er tue, souverän. Sein Ich und sein Selbst seien nie erschüttert, und er erweise sich – trotz der langen Hafterfahrung – als überaus robust gegenüber den ihn einengenden Bedingungen.
Es sträubt sich alles in mir, aber da ist was dran: Wenn man jemanden einsperrt, weil er psychisch krank ist, dann muss derjenige auch tatsächlich an einer Krankheit leiden. Wenn man stattdessen anfängt, Krankheit sozial zu definieren und mit Gefährlichkeit für die Gesellschaft zu vermengen, dann gerät man ganz schnell in ein ganz übles Fahrwasser.
Krank kann nur sein, wer Hilfe braucht. Im Gegenschluss: Wer an nichts leidet, auch und schon gar nicht am Leiden seiner Opfer, der ist vielleicht pervers, furchtbar, verachtenswürdig und gefährlich, aber der ist nicht krank. Psychopathische Snakes in Suits sind nicht krank (sonst müsste man einen nicht geringen Teil unserer Großkonzern-Managerelite in die Psychiatrie stecken). Hannibal Lecter ist nicht krank. Er ist unglaublich gefährlich. Aber nicht krank.
Dem widerspricht die Kammer ganz energisch: Ob jemand subjektiv an seiner psychischen Beschaffenheit oder überhaupt an irgendwas leidet oder nicht, sei ganz egal.
Dass die Betroffenen keinen oder nur einen geringen Leidensdruck empfinden und sich subjektiv in ihrer Lebensführung nicht behindert fühlen, gehört jedoch zum Störungsbild einer dissozialen oder antisozialen Persönlichkeitsstörung (…) und schließt daher für sich genommen das Vorliegen einer „psychischen Störung“ im Sinne von § 1 Abs. 1 Nr. 1 ThUG nicht aus. Entscheidend ist in den Fällen einer dissozialen oder antisozialen Persönlichkeitsstörung vielmehr der Grad der objektiven Beeinträchtigung der Lebensführung in sozialer und ethischer Hinsicht.
Jemanden wegen seiner „Lebensführung in sozialer und ethischer Hinsicht“ pathologisieren: Wird uns da nicht ein bisschen flau im Magen?
Mir scheint, dass sich der Druck, keine Monster auf die Leute loszulassen, da ein ganz problematisches Ventil sucht. Wenn jemand gefährlich ist, dann soll man ihn wegen seiner Gefährlichkeit einsperren. Wenn das wegen der Rückwirkung und des Vertrauensschutzes nur unter bei einer „hochgradigen Gefahr schwerster Gewalt- und Sexualdelikte“ geht, dann müssen wir halt die weniger hochgradige Gefahr weniger schwerer Delikte aushalten bzw. mit den Mitteln der Gefahrenabwehr in den Griff bekommen.
Natürlich wollen wir alle kein „Minority Report“-Szenario: Ich würde auch nicht gern die Aufgabe gestellt bekommen, gesetzliche Voraussetzungen dafür zu definieren, Leute für etwas, was sie in Zukunft vielleicht mal tun könnten, hinter Gitter zu sperren. Aber darum geht es doch so oder so. Auch wenn das schwer und politisch höchst heikel ist: Wäre es nicht besser, sich dieser Aufgabe offen zu stellen, anstatt sich die Mühe zu sparen und stattdessen am Krankheitsbegriff herumzuschrauben?
(Dass ich mich hiermit in Widerspruch zu mancher früheren Äußerung stelle, ist mir bewusst.)
Foto: Loren Javier, Flickr Creative Commons