Dass Griechenland mitten in einer Revolution steckt, weiß jeder, der in den letzten Wochen den Fernseher angemacht hat. Aber die Demonstranten vom Syntagma-Platz sind nicht die ganze Geschichte. Die Frage, die ich mir stelle: Welche Rolle spielt dabei der Regierungschef Georgios Papandreou?
Papandreou hat kürzlich angekündigt, im Herbst das Volk über eine Verfassungsreform abstimmen zu lassen. Wie genau er sich diese Reform vorstellt, ist noch nicht bekannt. Aber dass das politische System des Landes so nicht bleiben kann, liegt nach dem beispiellosen Desaster, das es angerichtet hat, auf der Hand.
Wenn ich aber in die Verfassung hineinschaue, dann steht da nichts von Referendum.
Hohe Hürden
Das Prozedere, das die griechische Verfassung in Art. 110 für ihre eigene Änderung vorschreibt, ist vielmehr ziemlich originell: Wenn mindestens 50 der 300 Parlamentsabgeordneten eine Verfassungsänderung vorschlagen, muss erstmal die „Erforderlichkeit“ einer Verfassungsänderung festgestellt werden – mit zwei Beschlüssen mit 3/5-Mehrheit und einer obligatorischen Abkühlphase von einem Monat dazwischen. Ob die Änderung in Kraft tritt, entscheidet „das nächste Parlament in seiner ersten Sitzungsperiode“ mit absoluter Mehrheit – nach Neuwahlen also, heißt das dann ja wohl, oder? Alternativ kann auch die Erforderlichkeit nur mit absoluter Mehrheit festgestellt werden, dann muss die Entscheidung mit 3/5-Mehrheit fallen.
Also: ziemlich hohe Hürden.
Wenn ich mich nicht irre, dann lässt das nur den Schluss zu, dass Papandreou mitnichten eine Reform der bestehenden Verfassung im Sinn hat, sondern eine ganz neue. Eine verfassungsgebende Versammlung. Eine dritte (oder wievielte auch immer) Republik. Eine Revolution im wörtlichen Sinne, und zwar eine von oben.
Papandreou will eine Art griechischer Charles de Gaulle werden. Im günstigsten Falle. Oder, im ungünstigsten, eine Art Napoleon III. Bonaparte.
Stabil ist nicht alles
Wie gesagt: An Gründen, die Verfassung zu renovieren oder meinetwegen auch ganz wegzuschmeißen, fehlt es offenkundig nicht. Wenn man der Analyse von Michael Mitsopoulos und Theodore Pelagidis glauben kann, ist Griechenlands Verfassung notorisch arm an Checks and Balances. Das Ein-Kammer-Parlament ist kaum mehr als ein verlängerter Arm der Regierung, die außer dem Verfassungsgericht keiner anderen Kontrollinstanz unterworfen ist, auch nicht der Öffentlichkeit, die von der byzantisch intransparenten Politik völlig im Dunkeln gelassen wird über das, was passiert.
Die Verfassung prämiert – typisch für ihre Zeit – vor allem die Stabilität und Handlungsfähigkeit der Regierung. Das Wahlrecht sorgt dafür, dass der relative Wahlsieger im Regelfall die absolute Mehrheit im Parlament bekommt. Koalitionen sind so regelmäßig ausgeschlossen. Die Regierung hat die Macht und muss niemanden mehr fragen. Kein Militäroberst soll mehr Gelegenheit bekommen, die Demokratie als schwache Laberveranstaltung hinzustellen und sich selbst als entschlossener Führer in die Brust zu werfen.
Die Folge: Die Regierung wird enorm erpressbar. Der öffentliche Dienst, die Gewerkschaften, alle möglichen kleinen und großen Interessengruppen können kommen und sagen: Ihr seid allein verantwortlich, dass hier was vorangeht im Land. Aber wir können verhindern, dass euch das gelingt. Wir können streiken, wir können sabotieren, wir können eure politische Karriere von heute auf morgen beenden. Das wollt ihr nicht? Dann tut uns doch bitte diesen oder jenen Gefallen.
Eine neue verfassungspolitische Kollektiverfahrung
In ihrem Bestreben, auf jeden Fall für eine handlungsfähige Regierung zu sorgen, ist die griechische Verfassung ein typisches Kind des 20. Jahrhunderts. Dessen beherrschende verfassungspolitische Kollektiverfahrung war, dass die Demokratie immer dann in Gefahr gerät, wenn die Regierung schwach und instabil erscheint. Eine gute Verfassung ist eine, die das verhindert.
Jetzt scheint die Finanzkrise für eine ganz neue Welle verfassungspolitischer Kollektiverfahrungen in Europa zu sorgen: Regierungen, die zwar einwandfrei stabil sind, aber trotzdem das Land an den Rand des Abgrunds oder darüber hinaus bringen – weil sie zu wenig mit den Leuten reden. Weil sie ihre Macht nutzen, gerade so viel Wähler auf Kosten aller anderen glücklich zu machen, dass es für die Mehrheit reicht. Weil sie so zu Geiseln bestimmter mächtiger Partikularinteressen werden. Weil sie so den überstimmten Minderheiten gar nicht erst zuhören zu müssen. Weil die Regierung zu einem gigantischen Stimmenkauf-Apparat verkommt.
Auch Island war durch eine Finanz- und Regierungskrise gegangen, die den Vergleich mit Griechenland nicht zu scheuen braucht. Jetzt arbeitet das Land an einer Verfassungsreform, die genau diesem Zustand ein Ende bereiten soll – mit zweifelhaften Erfolgsaussichten, aber immerhin.
Her mit den Vetospielern
Und Deutschland? Wir sind auch nicht frei von dieser Kollektiverfahrung – aber wir verfügen, anders als Griechenland oder Island, über eine Reihe von Checks and Balances, die bisher verhindern, dass die Lage außer Kontrolle gerät: Unsere Regierung ist im Regelfall eine Koalitionsregierung. Und es gibt den Bundesrat, der anders als der Bundestag über unabhängige Legitimationsquellen verfügt und der Regierung Paroli bieten kann und dies gelegentlich auch durchaus tut.
Also die bösen Vetospieler, deren Entmachtung uns in den neokonservativen Nuller-Jahren so am Herzen gelegen hatte (mir auch, muss ich zu meiner Schande gestehen).
Noch ein Kuriosum: Griechenland ist meines Wissens das einzige Land, das in seiner Verfassung seit 2001 ein Grundrecht „auf Beteiligung an der Informationsgesellschaft“ aufführt – bisher. Denn wer plant jetzt ebenfalls, den freien Zugang zum Internet in der Verfassung zu garantieren? Island.
Foto: George Laoutaris, Flickr Creative Commons
