9. Januar 2015

Hans Michael Heinig

Je suis Charlie! Drei Beobachtungen zu Folgen des Anschlags in Paris

Wer sich für das politische Tagesgeschehen interessiert, wird noch ganz unter dem Eindruck der Ereignisse von Paris stehen – dem widerwärtigen und feigen Anschlag auf die Redaktion von Charlie Hebdo und damit auf die Grundnormen einer freien Gesellschaft. Vermutlich wird uns die Auseinandersetzung über Konsequenzen und mittelbaren Folgen dieses Terroraktes auch in Deutschland noch lange beschäftigen. Wir werden Houellebecqs neuen Roman Unterwerfung begierig lesen, über Anpassungen im Gefahrenabwehrrecht diskutieren und die Wirrnisse in der Migrationspolitik werden sich weiter steigern. Ziemlich sicher wird auch die religionsrechtliche Ordnung in Deutschland auf die Tagesordnung gesetzt und Verteidiger eines christlichen Kulturvorbehaltes werden sich ebenso bestätigt sehen wie Anhänger eines strikten Laizismus. In all diesen Strängen öffentlicher Orientierung wird es nur mit Mühe gelingen, die Diskussionen mit Augenmaß zu führen. Das zeigte zuletzt schon die Berichterstattung über montägliche Zusammenkünfte in Dresden (Stichwort Pediga): Notwendige Unterscheidungen wie die zwischen Asylrecht, humanitärem Flüchtlingsrecht, EU-Freizügigkeit und gezielter Steuerung volkswirtschaftlich erwünschter Migration schienen da kaum einen zu interessieren. Und wie man ernsthaft meint, demokratische Selbstregierung auf ethnisch-völkischer statt auf republikanischer Grundlage im 21. Jahrhundert denken und leben zu können ist mir eh ein Rätsel.

Solche Debattenstränge antizipierend, zugegeben ganz unter der Impression des Aktuellen und mit einem Auge bei Spiegel Online will ich drei kleine Beobachtungen bloggen, die vielleicht bei der geneigten Leserschaft des Verfassungsblogs auf Interesse stoßen:

1.) Ich konnte dem Straftatbestand der Religionsbeschimpfung noch nie viel abgewinnen. Er steht eben doch im langen Schatten des Blasphemieverbots, auch wenn heute der öffentliche Frieden das geschützte Rechtsgut ist. Da liegt der Gedanke nahe, auf symbolische Weise den überragenden Wert der Kunst- und Pressefreiheit in Deutschland dadurch zu unterstreichen, dass § 166 StGB (Störung des öffentlichen Religionsfriedens) gestrichen wird. Die Norm schafft viele Missverständnisse und ist für einen sinnvollen Rechtsgüterschutz nicht erforderlich, da die Beleidigungstatbestände und der Schutz vor Volksverhetzung einen hinreichenden Schutz des religiösen Friedens garantieren. In der Rechtspraxis ist die Norm bedeutungslos. Aber eine Streichung würde deutlich machen: Die Presse- und Kunstfreiheit hat Vorrang vor dem diffusen Schutz religiöser Gefühle.

2.) Eine große Stärke der deutschen religionspolitischen Ordnung scheint mir, dass sie infolge der Präsenz der Religion im öffentlichen Raum auch Differenzierungen zuzulassen kann. Die staatliche Gemeinschaft kann alle Religionen, auch den Islam als gleichberechtigt behandeln (nicht nur in Fragen der Religionsfreiheit, sondern auch in den besonderen Institutionen des Religionsverfassungsrechts und in Formen symbolischer Anerkennung) und zugleich eine effektive Gefahrenabwehr gegen den religiösen Fundamentalismus betreiben. Sie kann die Einhaltung der Spielregeln demokratischer offener Gesellschaften auch institutionell belohnen (etwa durch Einrichtung theologischer Lehrstühle und eines Religionsunterrichts an öffentlichen Schulen) und den Bruch solcher Regeln sanktionieren (Ausschluss von Regierungsbegegnungen, aber bei hinreichendem Gewicht auch die Rechtfertigung von Rechtsverkürzungen). Sie kann so öffentliche Debatten über den Unterschied zwischen gefährlichen und produktiven Religionskulturen initiieren und ihre akademische Reflexion befördern, ohne die religiös-weltanschauliche Neutralität und die Religionsfreiheit in Frage zu stellen. Dadurch vermeiden wir in Deutschland bislang jedenfalls ein Klima wechselseitiger Stimulierung der Erregungszustände von radikalisierten Islamkritikern und orthodoxen Muslimen, wie sie Frankreich kennt, wo Religion per se und in jeder Form einfach Privatsache ist.

3.) Diese Vorteile der deutschen Tradition können auf Dauer nur Bestand haben, wenn sich die Muslime in Deutschland entschiedener kritisch mit den theologischen Traditionen auseinandersetzen, auf die sich der militante Islamismus beruft. Es reicht nicht, den Islam gebetsmühlenartig zur Friedensreligion zu erklären; offensichtlich gibt es eben auch eine Gewaltspur (auch) in dieser Religion. Das daraus resultierende Problem lässt sich mit Verweis auf die Schattenseiten der Kulturgeschichte des Christentums besser verstehen, aber in der Relevanz für die Gegenwart eben nicht relativieren. Insbesondere die sich neu etablierende islamische Theologie in Deutschland sollte sich deshalb nicht auf philologische Editionsprojekte beschränken, wie aus den Reihen der Verbandsorthodoxie gefordert, sondern ist aufgefordert, sehr gezielt eine Strategie der Historisierung und Kontextalisierung der islamischen Lehrgebäude betreiben. Ohne diese aus der Religion selbst heraus geleitete und angeeignete Aufklärung über sich selbst ist auf Dauer keine Religion zu zivilisieren.

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