16. September 2013

Marten Breuer

Kein Danaergeschenk! Eine Erwiderung auf Daniel Thyms „Ein trojanisches Pferd?“

Ich schätze meinen Freund und Kollegen Daniel Thym sehr, dennoch fühle ich mich zum Widerspruch verpflichtet. Meine Gründe sind die folgenden:

Mitgliedstaaten als „primäre Beschwerdegegner“?

Thyms Beitrag basiert auf der Annahme, dass nach dem Entwurf des Beitrittsübereinkommens der Europäischen Union zur Europäischen Menschenrechtskonvention die Mitgliedstaaten „primäre Beschwerdegegner“ vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) sind, und zwar selbst in solchen Fällen, in denen die Mitgliedstaaten das Unionsrecht ohne Spielraum umsetzen.

Darin liegt aus meiner Sicht ein Missverständnis des Beitrittsübereinkommens. Zwar heißt es in Art. 1 Abs. 4 des Übereinkommens: „For the purposes of the Convention, of the protocols thereto and of this Agreement, an act, measure or omission of organs of a member State of the European Union or of persons acting on its behalf shall be attributed to that State, even if such act, measure or omission occurs when the State implements the law of the European Union ….“. Das ist freilich nichts Neues. Vielmehr wiederholt diese Bestimmung lediglich die gefestigte EGMR-Rechtsprechung (Matthews, Bosphorus), nach der sich die Mitgliedstaaten ihren konventionsrechtlichen Verpflichtungen nicht durch Gründung einer internationalen oder supranationalen Organisation entziehen können („keine Flucht ins Völker-/Europarecht“).

Vor allem aber handelt es sich dabei um eine materiellrechtliche Bestimmung, nicht um eine prozessuale. Sie bedeutet nicht, dass Mitgliedstaaten in unionsrechtlichen Fällen vor dem EGMR primäre Beschwerdegegner sein müssten. Das wird gänzlich klar, wenn man Art. 3 Abs. 3 des Entwurfs liest, der lautet: „Where an application is directed against the European Union, the European Union member States may become co-respondents to the proceedings in respect of an alleged violation…“. Das ist die gesuchte prozessuale Regelung. Sie bedeutet, dass unter dem co-respondent mechanism die Beschwerdeführer frei sind: Entweder richten sie ihre Beschwerde gegen einen Mitgliedstaat und die EU wird co-respondent (das findet man in Art. 3 Abs. 2 des Übereinkommens) oder aber sie richten die Beschwerde gegen die Europäische Union und die Mitgliedstaaten werden co-respondents (Art. 3 Abs. 3).

Kein Angriff auf die Effektivität des Unionsrechts

Der Blog-Beitrag äußert weiterhin die Befürchtung, die effektive Wirksamkeit des Unionsrechts könnte durch das Beitrittsübereinkommen beeinträchtigt werden. Der co-respondent mechanism, der es erlaubt, in einem vor dem EGMR anhängigen Fall den Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) zu beteiligen (Art. 3 Abs. 6 des Übereinkommens), wird als möglicher Anreiz für mitgliedstaatliche Richter gewertet, den EuGH zu umgehen. Der nationale Richter, so die Argumentation, könnte davon absehen, einen Fall nach Luxemburg zu überweisen, weil ja eine spätere Beteiligungsmöglichkeit ohnehin besteht. Dieses Argument lässt sich sowohl rechtlich als auch psychologisch analysieren.

In rechtlicher Hinsicht kann ich nicht erkennen, inwiefern eine mögliche – aber doch keineswegs sichere! – zukünftige Beteiligung des EuGH die letztinstanzlich entscheidenden innerstaatlichen Richter von ihrer Verpflichtung aus Art. 267 Abs. 3 AEUV entbinden sollte, einen Fall dem EuGH vorzulegen. Nach dem co-respondent mechanism besteht ja lediglich die Möglichkeit einer Beteiligung des EuGH. Das kann nicht dazu führen, die Verpflichtung aus Art. 267 Abs. 3 AEUV abzuschwächen. Vor allem aber ist das eine Auslegungsfrage des Unionsrechts als solchen. Die EuGH-Richter verfügen somit über alle notwendigen Mittel, um sicherzustellen, dass die effektive Wirksamkeit des Unionsrechts nicht beeinträchtigt wird.

In psychologischer Hinsicht kann in der Tat nicht ausgeschlossen werden, dass letztinstanzliche Gerichte ihre Verpflichtung aus Art. 267 Abs. 3 AEUV vernachlässigen, da ja die Möglichkeit einer späteren Beteiligung des EuGH besteht. Doch kann man dies nicht dem co-respondent mechanism zum Vorwurf machen: Es ist schlicht die Folge aus der Architektur des Art. 267 AEUV, der auf freiwilliger Kooperation zwischen nationalen Richtern und dem EUGH basiert.

Keine Gefahr durch Protokoll Nr. 16

Schließlich warnt Daniel Thym davor, dass das neu eingeführte Vorabentscheidungsverfahren zum EGMR nach dem (noch nicht in Kraft getretenen) Protokoll Nr. 16 die effektive Wirksamkeit des Unionsrechts gefährden könnte, da nationale Gerichte bereit sein könnten, einen Fall erst an den EGMR und nicht an den EuGH zu verweisen. Ich halte diese Befürchtung wiederum für nicht gerechtfertigt.

Hierfür muss man sich nur vor Augen führen, dass Vorabentscheidungsverfahren auch zu den nationalen Verfassungsgerichten existieren, ohne dass diese die effektive Wirksamkeit des Unionsrechts gefährdeten. Das ist die Folge des Urteils Simmenthal II, in dem der EuGH entschied, dass nationale Gerichte verpflichtet sind, einen Fall zunächst an den Gerichtshof in Luxemburg und nicht an ein nationales Verfassungsgericht zu verweisen. Gleiches sollte, mutatis mutandis, für den EGMR gelten.

Keine neuen Beitrittsverhandlungen!

Daher kann ich Daniel Thyms Plädoyer für eine Wiederaufnahme der Beitrittsverhandlungen nicht zustimmen. Das Übereinkommen – und insbesondere der co-respondent mechanism – stellt einen vorsichtig ausbalancierten Kompromiss dar, um die Europäische Union am Konventionstisch zu haben, unter gleichzeitiger Wahrung der Autonomie des Unionsrechts.

Es sei daran erinnert, dass schon gegenwärtig Fälle mit EU-Bezug vor den EGMR kommen können, freilich ohne die Möglichkeit einer prozessualen Einbeziehung des EuGH. Im Vergleich dazu stellen die Bestimmungen des Beitrittsübereinkommens doch nur eine Verbesserung dar.

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