22. September 2010

Maximilian Steinbeis

Kirchhofs Rettungsschirm für Kirchen, und andere Juristentagsnotizen

Warum spannt der Staat einen Rettungsschirm auf, wenn einige Finanzinstitute sich übernommen haben, während er den Schirm geschlossen lässt, wenn wir beobachten, dass einige Träger dieser Kultur, auf die unsere Verfassung baut, substanziell gefährdet sind?

Das ist ein Satz von Paul Kirchhof, gefallen in seinem heutigen Referat auf dem Juristentag zu Berlin zum Thema Staat und Religion. Und wie das so ist mit Kirchhof-Sätzen, so erscheint auch dieser auf charakteristische Weise gleichzeitig luzide und geschwollen, weshalb ich mir erlaube, ihn mal zu paraphrasieren:

Die Banken retten, das könn’se, aber die Kirchen lassen sie verrecken.

Der Diskussionsgegenstand der Abteilung Öffentliches Recht des Juristentags ist klug gewählt: Islamhasser auf dem Vormarsch, Kopftuchstreit, Burkaverbot, Moscheenstreit, dazu allerhand aufsehenerregende Rechtsprechung von EGMR und anderen – das Thema Staat und Religion ist aktuell, und an Anlässen, über das Verhältnis zwischen beiden nachzudenken, fehlt es nicht.

Kultur, Moral, Kinderkriegen

Kirchhofs Position ist, wiederum in meinen Worten zusammengefasst, diese:

Kultur, Moral, Ehre zerbröseln, das Diktat der Ökonomie ist allumfassend, keiner ringt mehr um die Wahrheit, Skeptiker und Zyniker allenthalben. Und Kinder kriegen wir auch keine mehr. Zwischen so viel Verfall kann Freiheit nicht gedeihen, und deshalb ist es um der Freiheit willen nötig, ihn aufzuhalten, den Verfall, und zwar von Staats wegen.

Das heißt zum Beispiel, dass der Staat Religionsunterricht nicht nur erteilen darf, sondern muss (moralisch) – denn wenn die Kinder überhaupt keine Ahnung von Religion haben, können sie keinen Gebrauch von ihrer Religionsfreiheit machen, während sie, wenn sie wenigstens die Christenlehre kennen, sich immer noch dagegen entscheiden und sich dem Islam, dem Agnostizismus oder dem tantrischen Yoga zuwenden können. Religionsunterricht als Dienst am Grundgesetz also:

Sonst halten wir diese jungen Menschen, was die Religionsfreiheit angeht, systematisch grundrechtsunmündig.

Glaubensausfallgarantie oder „bad church“?

Das heißt zum Zweiten, dass der Staat sich um die Institutionen, die sich um das Kinderkriegen und andere kulturell wünschenswerte Dinge kümmern, seinerseits kümmern muss, weil er ja, wie Kirchhof einräumt, den Frauen das Kinderkriegen schließlich nicht befehlen kann. Und das sind die Religionsgemeinschaften, an die sich das Staatskirchenrecht, das ins Grundgesetz aufgenommene Angebot der Weimarer Verfassung richtet, sich inkorporieren und an die starke Brust des Staates drücken zu lassen.

Hier hätte jetzt eigentlich was zu dem besagten Rettungsschirm kommen müssen, den Kirchhof für die von innen heraus erodierenden etablierten Institutionen, die evangelische und die katholische Kirche nämlich, fordert.

Wie soll der aussehen?

Da könnte man sich allerhand vorstellen: Vielleicht eine Sinnstiftungsgarantie, übernommen von der Bundeszentrale für politische Bildung, die im Fall eines jähen Frömmigkeitsabfalls der Bevölkerung einspringt? Oder eine Ausfallbürgschaft des Fiskus für kirchensteuerbedingte Austritte? Ein Sonderfonds Glaubensstabilisierung (SoFGla), eine „bad church“, in die die Kirchen ihre faulen Dogmen und risikoreichen Lehrmeinungen auslagern können?

Das führte Kirchhof leider nicht näher aus.

Ich hatte generell den Eindruck, als appelliere Kirchhof gar nicht so sehr an den Staat, sondern an die Gesellschaft, an das deutsche Volk. Das ist es ja schließlich, das sich so hartnäckig weigert, genügend Kinder zu kriegen. Mir schien, als hörte ich weniger einem Juristen zu, der rechts- und verfassungspolitische Vorschläge macht und analysiert, sondern einem Prediger, der die sündenbeladene Gemeinde zur Umkehr aufruft. Ist ja vielleicht auch ganz passend bei dem Thema. Allerdings stehen da ohnehin noch allerhand Theologenreferate auf der Tagesordnung, u.a. vom unvermeidlichen Bischof Huber, die ich mir allerdings schenke, weil ich ja irgendwann auch diesen Text hier schreiben muss.

Was sich verändert hat

Anschließend kam der famose Christoph Möllers, und dem gelang es eher, meinen Juristendurst nach verfassungsrechtlicher Reflexion zu stillen. Ich paraphrasiere und zitiere nach Manuskript:

Der Gesetzgeber, so Möllers, sei im Religionsrecht aus drei Gründen relativ wenig aktiv: Erstens weil aus zweifelhaften historischen Gründen das Verhältnis Staat – Religion oft durch Verträge geregelt werde und nicht durch Gesetze. Zweitens weil es bei Art. 4 GG kein „Das Nähere regelt ein Bundesgesetz“ gebe. Und drittens, weil sich auch hier oft informelle Wege anbieten wie die Islamkonferenz, in der sich Staat und Religionsgemeinschaften „abtasten“ können.

Vor der Frage, was gesetzgeberisch zu tun sei, müsse man aber klären, was sich überhaupt verändert habe.

Die etablierten Religionsgemeinschaften schrumpfen, so Möllers‘ Antwort, und die weltanschauliche Pluralisierung der Gesellschaft wachse, ebenso die Neigung derer, die noch religiös sind, zur Fundamentalisierung. Gleichzeitig werde es immer schwerer, zu bestimmen, welche Handlungen religiös sind und welche „nur“ kulturell.

Aber auch das verfassungsrechtliche Leitbild habe sich gewandelt: Das Verhältnis von Staatskirchenrecht und Religionsfreiheit sei zunehmend problematisch, und wenn der Staat die eine Religion reguliert und die andere nicht, entstehen Diskriminierungsprobleme:

Die große Nähe, die das Grundgesetz durch Institutionen wie den Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach, die Einrichtung theologischer Fakultäten an öffentlichen Hochschulen oder den Status der Körperschaft des öffenlichen Rechts, zwischen Staat und bestimmten Religionsgemeinschaften ermöglicht, hat zugleich eine faktisch exkludierende Wirkung für andere Religionsgemeinschaften.

Die Schlussfolgerung, so Möllers, müsse sein, dass der Gesetzgeber seine Gestaltungsversuche im Bereich der Religion möglichst vorsichtig dosieren sollte.

Das gelte insbesondere für die Versuche mancher Länder, das Kruzifix und die Nonnentracht im Klassenzimmer als Symbole „christlich-abendländischer Kultur“ vor der antidiskriminatorischen Verdammnis zu retten:

Die Identifikation bestimmter Religionen, des Christentums, mit einer festgefügten eigenen Kultur begründet aber nicht nur eine schlecht verdeckte Diskriminierung. Sie schließt letztlich auch Angehörige anderer oder keiner Religion von einem vermeintlichen Kernbestand der demokratischen Gemeinschaft aus.

Recht oder Dialog

Hier trifft Möllers in meinen Augen genau den Punkt, den Kirchhof übersieht:

Für Kirchhof ist das Verfassungsrecht etwas, was Christen hervorgebracht haben, ein Erzeugnis „christlich-abendländischer“ Kultur und damit dem Fortbestand und Gedeihen speziell dieser Kultur verpflichtet – was duldsame Hinnahme anderer Kulturen und Religionen keineswegs ausschließt. Der Rest ist für Kirchhof „Dialog“ – man beugt sich freundlich-professoral herunter zu den merkwürdigen Nichtchristen und hört sich an, was sie zu ihrem Glauben zu sagen haben, und dann geht man wieder seiner christlichen Wege.

Möllers dagegen erkennt das Verfassungsrecht als Werkzeug der Gesellschaft, um mehr Andersartigkeit managen zu können. Unter diesem Blickwinkel sind Glaubensfreiheit und Staatskirchenrecht nicht dazu da, das deutsche Volk kulturell gesund zu erhalten, sondern einen rechtlichen Rahmen zu schaffen, in dem Menschen unterschiedlichster Heilsgewissheiten miteinander gut zurecht kommen können.

Organisationsform unterhalb der Körperschaft

Möllers schlägt zweierlei vor:

Erstens sollte man die mit dem Körperschaftsstatus für Religionsgemeinschaften verbundenen Rechtsfolgen überprüfen. Soweit den inkorporierten Kirchen Rechte und Privilegien (Zeugnisverweigerungsrecht, Sitz im Rundfunkrat) verliehen werden und anderen nicht, sei dies kaum noch zu rechtfertigen.

Außerdem sollte es für Religionen, die sich nicht inkorporieren lassen oder lassen wollen, „weniger voraussetzungsreiche zivilrechtliche Organisationsformen“ geben.

Nicht selten zeichnet die Diskussion im deutschen Religionsverfassungsrecht eine recht deutsch anmutende stark begriffslastige, aer wenig problemorientierte Organisationsversessenheit aus, die sich etwa in den Bemühungen um eine Abgrenzung zwischen religiösen Dachverbänden, Moschee-Vereinen und Religionsgemeinschaften mit Blick auf die Frage eines islamischen Religionsunterrichts als ordentliches Lehrfach zeigt.

Foto: (c) Franziska Kafka, Wikimedia Commons.

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