1. März 2012

Maximilian Steinbeis

Knapp und dunkel: Das Genozid-Urteil des französischen Verfassungsrats

Die Entscheidung des französischen Verfassungsrats vor zwei Tagen, die Strafbarkeit der Leugnung des armenischen Völkermords für verfassungswidrig zu erklären, ist – jedenfalls aus deutscher Perspektive – ein erstaunliches Dokument, und zwar sowohl, was den Stil, als auch was den Inhalt anbelangt.

Am Stil fällt zunächst auf, wie unglaublich kurz das ganze Ding ist: Sechs knappe Absätze reichen den französischen Verfassungsrichtern, um zu begründen, warum dieses Gesetz mit der Déclaration des Droits Humains nicht vereinbar ist, insbesondere nicht mit der Meinungsfreiheit. Davon schildern die ersten zwei erstmal nur den Sachverhalt, und der dritte zählt auf, welche Grundrechte alles verletzt sind. Die verbleibenden drei Absätze, aus denen man erfährt, was genau der Gesetzgeber falsch gemacht hat, umfasst nicht mehr als 25 Zeilen Text.

Wir sind ja von unseren Verfassungsrichtern gewohnt, das Abbild ihrer verfassungsdogmatischen Überlegungen in extrem hoher Auflösung geliefert zu bekommen. Das hat den Vorzug, dass man sich damit argumentativ auseinandersetzen kann, und das führt nicht nur dazu, dass Blogs wie dieser entstehen, sondern stärkt auch die Legitimation des Verfassungsgerichts.

Robert Alexy hat neulich beim Wissenschaftskolleg seine These von der „argumentativen Repräsentation“ ausgeführt, die durch das Verfassungsgericht stattfinde: Alexy zufolge kann man auch dann von Repräsentation sprechen, wenn der Repräsentant zwar nicht vom Repräsentierten gewählt ist, sich aber dafür um so mehr argumentativ um seine Zustimmung bemüht. Das tue das Verfassungsgericht als „negativer Gesetzgeber“ und verschaffe sich so demokratische Legitimation, im Gegensatz zum gewählten Repräsentanten Bundestag, bei dessen Entscheidungen wie bei dessen Legitimation es allein auf die Mehrheit ankommt.

Unter diesem Blickwinkel könnte man fragen, wie es um die „argumentative Repräsentation“ des französischen Volkes durch seine Verfassungsrichter bestellt ist. Damit sind wir beim Inhalt der Entscheidung, und der ist auch ziemlich interessant.

Revêtue de portée normative

Die Argumentation des Verfassungsrats geht so: Ein Gesetz sei dazu da, Regeln aufzustellen und müsse daher „mit normativer Bedeutung ausgekleidet sein“ (revêtue de portée normative). Die Verfassung erlaube dem Gesetzgeber, solche Regeln zu den Grenzen der Meinungsfreiheit zu erlassen. Aber ein Gesetz, das zum Ziel hat, dass ein als Verbrechen bereits rechtlich anerkannter Völkermord als Verbrechen anerkannt wird, sei ohne diese „normative Bedeutung“.

Wenn ich das richtig verstehe, heißt das: Der Staat kann Völkermord zu einem Verbrechen machen, das hat normative Bedeutung. Aber er kann es nicht zu einem Verbrechen machen, Völkermord nicht zu einem Verbrechen machen zu wollen. Denn er hat es ja schon zu einem Verbrechen gemacht. Deshalb hat das keine normative Bedeutung. Wenn einer den armenischen Genozid leugnet, dann ist das aus dieser Perspektive sozusagen gar kein Vorgang, der rechtlich existiert. Der Staat bestimmt, was Genozid ist und was nicht, mittels Gesetz als Ausdruck der volonté generale (die das Urteil ausdrücklich anruft), und nicht irgendwelche Privatleute. Etwas, das das Gesetz zum Völkermord erklärt, nicht für einen Völkermord zu halten, ist so gesehen kein Verbrechen, sondern eine Torheit, ein Blödsinn, ein Widerspruch in sich.

Kein Verfassungsgericht

Das ist schon ein sehr fremdes Verfassungsdenken, finde ich. Aber es passt in bestimmter Weise zu der knappen Begründung.

Der Verfassungsrat ist bzw. war bis vor kurzem kein mit einem Verfassungsgericht vergleichbares Organ, weil er die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes abstrakt überprüft, bevor es in Kraft gesetzt wird. Erst seit 2008 sieht die französische Verfassung so etwas wie eine Normenkontrolle vor, die dem Verfassungsrat die Möglichkeit verschafft, anhand eines konkreten Falls die Verletzung von Grundrechten durch bereits geltendes Gesetz festzustellen und dieses Gesetz für verfassungswidrig zu erklären. Bis dahin galt das Wort von Charles de Gaulle: „La cour suprème, c’est le peuple!“

Aus dieser Tradition heraus macht es sowohl Sinn, sich nicht allzu lang mit „argumentativer Repräsentation“ aufzuhalten, als auch, die Begründung auf die volonté génerale zu stützen anstatt auf die Freiheitssphären individueller Bürger, wie wir es erwarten würden.

Interessant wird es, ob und wie sich die neue Kompetenz zur nachträglichen Normenkontrolle über kurz oder lang auf Stil und Inhalt der Verfassungsratsrechtsprechung auswirken wird. Und auf das Gewicht des Verfassungsrats im französischen Verfassungsgefüge insgesamt.

Foto: Mzbt, Wikimedia Commons

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