Die Corona-Krise wirkt für das Verfassungsrecht wie ein Brennglas. Sie offenbart die Leistungsfähigkeit, aber auch bemerkenswerte Eigendynamik einer aktiven, präventionsstaatlich ausgerichteten Exekutive, die auf weitgehenden gesellschaftlichen Konsens trifft und die Ausnahmelage erstaunlich reibungslos und selbstverständlich organisiert. Sie führt uns mit neuer Deutlichkeit vor Augen, welchen Wert die parlamentarische Repräsentation, der politische Diskurs und der Gesetzesvorbehalt gerade in der Situation einer Ausnahmelage haben. Und sie ruft in Erinnerung, dass staatliches Entscheiden stets auf der Setzung von Prioritäten beruht und zumeist grundrechtliche Güterabwägungen voraussetzt.
Völlig zu Recht wird deshalb darauf hingewiesen, dass eine abwägungsblinde Verabsolutierung des Lebensschutzes, eine Politik der maximalen Bekämpfung des Corona-Virus um jeden Preis, grundrechtlich nicht der richtige Weg sein kann (so Uwe Volkmann in einem FAZ-Beitrag vom 1.4.2020). Seit jeher akzeptieren wir Straßenverkehrstote um der Mobilität willen, Grippe-Tote, ohne dass ein Impfzwang eingeführt würde, und tote Soldaten in bewaffneten Konflikten. Der grundrechtliche Lebensschutz ist in ein Verhältnis zu setzen zur freien Entfaltung der Persönlichkeit, zu anderen grundrechtlich geschützten Freiheiten und zu sonstigen Gütern von Verfassungsrang. Unverfügbar ist allein die Menschenwürde. Das höchste Gut, auf das sich die politische Gemeinschaft verpflichtet hat, ist deshalb nicht das Leben, sondern – wie es Uwe Volkmann formuliert – das „Leben in Würde“. Die eigentliche Herausforderung durch die Corona-Krise sieht Stefan Huster in seinem Verfassungsblog-Beitrag vom 22.3.2020 dementsprechend nicht im Sterben, auch nicht im vielfachen Sterben als solchem, sondern in den Bedingungen, unter denen sich dieses Sterben vollzieht. Er verweist auf die drohende Notwendigkeit von Triage-Entscheidungen, also Entscheidungen darüber, wer ein Beatmungsgerät erhält und wer nicht, und auf Bilder von überfordertem Klinikpersonal, die man nicht sehen möchte. Genau dies sei, so wiederum Uwe Volkmann, in die Waagschale zu werfen und abzuwägen mit dem anderen zentralen Element des Würdeversprechens, „dem Versprechen des Zusammenlebens in Freiheit und Gleichheit“, dem Versprechen oder auch Anspruch darauf, „in einer Gesellschaft zu leben, die irgendwie anders aussieht als die von Nordkorea“.
So richtig es ist, dass sich das Leben in das Spektrum der nur relativ geschützten Verfassungsgüter einreiht und überwölbt wird von der Menschenwürde und dem daraus abgeleiteten Menschenbild des Grundgesetzes, das gerade auch von Begegnung und Sozialität, also vom Zusammenleben in Freiheit und Gleichheit geprägt ist, sind bei den grundrechtlichen Abwägungen, die den Maßnahmen zur Bekämpfung des Corona-Virus zugrunde liegen, aber doch einige Besonderheiten zu beachten.
Zum einen – und vorweggeschickt – ist das Leben für den einzelnen selbst zwar verfügbar, die der Persönlichkeitsentfaltung dienende, autonome Selbstgefährdung deshalb behördlich im Grundsatz nicht zu verbieten – dem Grundgesetz ist staatlicher Paternalismus kategorisch fremd. Grenzen ergeben sich nach hergebrachter Verfassungsdogmatik aber dort, wo das individuelle Handeln gewichtige Schutzgüter Dritter in Mitleidenschaft zieht; sei es das Leben von Rettungskräften, sei es die Leistungsfähigkeit der Gesundheits- und Sozialversicherungssysteme, die auch für andere, Bedürftige vorgehalten werden sollen, sei es die Gesundheit der Mitmenschen. Schon dies kann staatliche Maßnahmen, die einem allzu laxen Umgang des einzelnen mit der bislang nicht vollständig verstandenen und sicher nicht auf ganz bestimmte Risikogruppen begrenzten Gefahr durch das Corona-Virus entgegenwirken, zumindest in gewissem Umfang legitimieren.
Zum anderen – und im Rahmen einer auf die Menschenwürde konzentrierten Diskussion insbesondere – ist daran zu erinnern, dass die staatliche Schutzpflicht für das individuelle Leben, das schwach ist und sich nicht ausreichend selbst schützen kann, unmittelbar aus der grundrechtlichen Gewährleistung der Menschenwürde folgt. In seiner zweiten Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch spricht das Bundesverfassungsgericht in genau diesem Sinne von der „Würde des Menschseins“, die zu achten und zu schützen der Staat verpflichtet ist und aus der sich der Lebensschutz ableitet (BVerfGE 88, 203 (251 f.)). Eine Gesellschaft, die sich zur Menschenwürde als Höchstwert bekennt, hat sich eben deshalb schützend vor das Leben zu stellen, wo es schwach und hilflos ist. Diese würdebegründete Schutzpflicht folgt wohlgemerkt nicht erst daraus, dass der Arzt keine schwierigen Triage-Entscheidungen soll treffen müssen, und auch nicht erst daraus, dass wir keine Bilder von Tragödien in Krankenhäusern sehen wollen, gleichsam also aus einem subjektiv-ästhetisch konzipierten Würdeanspruch der Gesunden. Die Schutzpflicht ergibt sich vielmehr im Blick auf den hilflosen Menschen selbst, auf seine individuelle Würde des Lebens.
Auch dies ändert freilich nichts am Abwägungsbedarf. Doch bleibt festzuhalten, dass dem Verlangen nach freier und gleicher Persönlichkeitsentfaltung in Würde sehr deutlich und grundrechtsintensiv die Würde des Lebens der in besonderer Weise gefährdeten Älteren und Schwachen gegenübersteht, die es zu wahren gilt. Dies in seiner Tragweite zu erkennen, verlangt uns Gemeinsinn und generationenübergreifende Solidarität ab. Auch wenn der normative Individualismus der der freiheitlichen Gesellschaft einzig angemessene Ausgangspunkt des Rechts ist, kann durch ein Verständnis dafür, dass eine Persönlichkeitsentfaltung in Würde unter dem Grundgesetz immer eine Persönlichkeitsentfaltung in Respekt vor der Würde (des Lebens) der anderen ist, gesellschaftlich sehr viel gewonnen werden.
Natürlich wird mittelfristig viel dafür sprechen, nach Risikogruppen zu differenzieren und denjenigen Personengruppen, die durch das Corona-Virus besonders gefährdet sind, mehr an eigener Freiheitsbeschränkung abzuverlangen als den anderen. Solange aber auch diejenigen, die weniger im Risiko stehen, durch einen gewissen Freiheitsverzicht tatsächlich substantielle Beiträge zum gesundheitlichen Vorteil aller erbringen können, und solange dies bei einer Gesamtabwägung der Freiheitsinteressen und auch der wirtschaftlichen Konsequenzen noch hinnehmbar erscheint, sollten diese Beiträge erbracht werden. Ostern im Freizeitpark kann und darf es uns verfassungsrechtlich nicht wert sein, die Alten und Schwachen langfristig weitestgehend zu isolieren oder gar eine deutlich erhöhte Zahl von Opfern, die nicht selbst entscheiden und die sich nicht wehren können (wie Verkehrsteilnehmer oder Impfverweigerer), bewusst zu provozieren. Dies wäre die Kapitulation des gesellschaftlichen Miteinanders.
Ein unter Berücksichtigung dieser Zusammenhänge und Wertungen geführter – über das Technisch-Administrative hinausweisender – politischer Diskurs über unser Selbstverständnis als Gesellschaft, gerade im Parlament, könnte befriedend wirken, Orientierung bieten und Perspektiven eröffnen.