Staaten, die Leihmutterschaft ethisch furchtbar finden und bekämpfen und verbieten wollen, dürfen das tun – aber sie dürfen diesen Kampf nicht auf dem Rücken des Kindes austragen. Im letzten Sommer hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte entschieden, dass die Staaten vor lauter Empörung nicht so tun dürfen, als habe ein von einer Leihmutter ausgetragenes Kind nicht einmal einen biologischen Vater mehr. Und erst im Dezember hat der Bundesgerichtshof daraus die Konsequenzen gezogen und bestimmt, dass im Interesse des Kindes ausländische Gerichtsentscheidungen, die das Kind den Besteller-Eltern zuweisen, in Deutschland anerkannt werden können.
Das hat in der konservativen Presse allerhand Händeringen ausgelöst, was nicht weiter schlimm wäre. Heute hat aber der Straßburger Gerichtshof eine Kammerentscheidung veröffentlicht, die zeigt, wie weit der Gerichtshof diese Linie zu treiben bereit ist. Meine Vermutung: das wird noch richtig Ärger geben. Und zwar nicht nur bei solchen, die sich um das traditionelle Mutterbild grämen.
Ein kinderloses Paar aus Italien hatte nach jahrelangen erfolglosen In-Vitro-Fertilisations- und Adoptiv-Versuchen schließlich sein Schicksal einem russischen Anwalt namens Konstantin Svitnev anvertraut. Der ist Geschäftsführer des Unternehmens Rosjurconsult, das ihnen für 49.000 Euro eine gespendete Eizelle und eine Leihmutter vermittelte. Anschließend trieb Herr Svitnev das Konzept One-Stop-Shop dadurch auf die Spitze, dass er die beiden hinterher obendrein als Anwalt vor dem Gerichtshof in Straßburg vertrat.
Leihmutterschaft ist in Russland legal und ein großes Geschäft, mit vielen dunklen Flecken. Ein solcher fand sich auch im Fall der beiden Kläger: Die Behörden verlangten einen Abstammungstest, und bei dem stellte sich heraus, dass der vermeintliche Vater tatsächlich mit dem Kind biologisch gar nicht verwandt war. Angeblich ein Fehler des Labors, das die Spermien verwechselt hatte.
Daraufhin beschloss das zuständige Kindschaftsgericht in Italien, dass das Kind bei diesen „Eltern“ nicht gut aufgehoben sei und ordnete an, es im Heim unterzubringen. Die „Eltern“ hätten das Kind illegal nach Italien gebracht und als ihres ausgegeben, hätten mit dem Einschalten von Rosjurconsult das italienische Adoptions- und Reproduktionsrecht umgangen und hätten das ganze Unternehmen womöglich überhaupt nur aus „narzistischem Drang“ betrieben bzw. um ihre Eheprobleme zu lösen. Daher sei das zu diesem Zeitpunkt sechs Monate alte Kind ohne sie besser dran.
Das, so die Mehrheit der Straßburger Kammer, verletzt die beiden in ihrem Recht auf Familien- und Privatleben (Art. 8 EMRK).
Das Recht auf Familienleben sei auf diesen Fall anwendbar: Geschützt seien die faktisch bestehenden persönlichen Bande zwischen Familienmitgliedern, auch wenn diese nicht genetisch miteinander verwandt sind. Auch ein so kurzer Zeitraum wie sechs Monate könnten genügen, um solche Bande zu knüpfen. Dieses Recht habe das italienische Gericht nicht ausreichend gegen das öffentliche Interesse, das eigene Adoptions- und Reproduktionsrecht durchzusetzen abgewogen. Das Gericht habe vor allem die Interessen des Kindes im Auge zu behalten, und das habe es nicht ausreichend getan. Den Eltern ihr Kind wegzunehmen – die Anführungszeichen wird man in dem Kontext weglassen können – sei nur in Extremfällen gerechtfertigt, in denen das Kind in unmittelbarer Gefahr sei. Die bloße Tatsache, dass die Eltern versucht hatten, das italienische Adoptionsrecht zu umgehen, reiche nicht aus.
Dass das Kind nicht zum Sündenbock gemacht werden darf, den man schlägt, um die Eltern für ihr illegales Verhalten zu bestrafen, leuchtet mir ein. Der Richtermehrheit geht es offenbar darum, das Kind davor zu beschützen, zur Schachfigur des Staates zu werden, der die Effektivität seiner Public-Policy-Entscheidungen gegen Umgehungsversuche im Ausland abdichten will. Das ist aller Ehren wert.
Dennoch macht mir die Sache Bauchschmerzen.
Erstens ist dies ein Fall, wo man schon fragen kann, ob hier nicht ein weiterer Margin of Appreciation am Platze gewesen wäre. Kann das Straßburger Gericht, wie die beiden Minderheitsrichter Raimondi und Spanó anmerken, wirklich besser beurteilen, was für das Kind gut ist und was nicht, als das zuständige Gericht vor Ort?
Zweitens beschleicht mich ein schlechtes Gefühl, was diesen Herrn Svitnev und seine Firma Rosjurconsult betrifft. Sollte sich Straßburg wirklich dafür hergeben, dem Geschäftsmodell dieses Herrn die in Westeuropa bestehenden rechtlichen Hindernisse aus dem Weg zu räumen? So sehr ich Mitgefühl empfinde mit dem Schicksal kinderloser Paare jeglichen Geschlechts: sich Eizelle, Samenzelle und Uterus von einer kommerziellen Firma einfach von irgendjemand in Russland zusammenkaufen zu lassen – soll ein Staat nicht auf demokratisch legitimierte Weise sagen können, so etwas wollen wir nicht?
In den bisherigen Fällen ging es zumeist um Kinder, denen die Behörden die Eintragung ins Geburtsregister als Kinder ihrer „Eltern“ verweigerten (hier auch, aber das war hier nur ein Nebenaspekt). Die Behörden machen einfach beide Augen ganz fest zu und sagen, was für Kinder, ihr habt gar keine Kinder, höchstens die Leihmutter hat Kinder, und die sitzt in Kalifornien oder sonstwo. Das Ergebnis ist, dass eine tatsächlich dauerhaft funktionierende Familie ins rechtliche Niemandsland verstoßen wird. Diese Praxis als menschenrechtswidrig zu brandmarken, dagegen habe ich absolut nichts.
Das Kind stattdessen den „Eltern“ wegzunehmen und in Pflege- bzw. Adoptivfamilien zu geben, ist sicherlich eine eisenharte Entscheidung. Aber sie spielt dennoch auf einer anderen Ebene. Anstatt zu tun, als gebe es das sozusagen in Sünde gezeugte Kind überhaupt nicht oder jedenfalls nicht als Person, um das sich der Staat zu kümmern hat, übernimmt der Staat Verantwortung für das Kind, und zwar ganz unmittelbar.
Die beiden „Eltern“ in dem heute entschiedenen Fall haben von ihrem Sieg nicht viel. Das Kind bleibt bei den Pflegeeltern, zu denen es, wie das Straßburger Gericht schreibt, in den letzten zwei Jahren eine affektive Bindung aufgebaut hat. Sie bekommen 20.000 Euro Schadensersatz – weniger als die Hälfte dessen, was sie der Firma Rosjurconsult hatten zahlen müssen.
Grund zur Freude hat vor allem deren Geschäftsführer, der als Anwalt der beiden Kläger dieses Urteil erstritten hat. Schöner Erfolg.