Man sieht die Bilder von den in den Himmel schlagenden Flammen, von der ungeheuren Zerstörungskraft der Glut, von dem todschwarzen Gebröckel, wo eben noch ganz normale, ganz banale Häuser standen mit ganz normalen, ganz banalen Möbelgeschäften oder Mobilfunkketten darin, von den fleckigen Skeletten der ausgebrannten Autos, von den eben noch ganz normalen, ganz banalen Kapuzenjungs, die Arme voll mit Computerspiel-Diebesgut, ihr heiseres, begeistertes Gebrüll, als könnten sie nicht glauben, was ihnen da soeben für eine tolle Sache gelungen ist.

Man sieht diese Bilder und fühlt sich, wie sich ein Neandertaler im Angesicht eines Vulkanausbruchs gefühlt haben mag: Das bedeutet irgendwas. Das ist ein Zeichen.

Aber für was? Was hat das zu bedeuten? Was steckt dahinter? Wer?

Für eine Armvoll Playstations

Wir kennen die Bilder aus Teheran, aus Tunis, aus Kairo. Da hat es viel weniger gebrannt, aber man wusste: Die wollen uns etwas sagen, diese Menschen, deswegen versammeln sie sich, deswegen riskieren sie ihre Haut, deswegen schütteln sie ihre Angst vor der Polizei ab, deswegen sind sie dort, wo sie sind, und deswegen tun sie das, was sie tun.

Manchmal wissen sie vielleicht gar nicht genau, was sie damit sagen wollen. Keiner kann beispielsweise präzise benennen, was die Bewohner der Zeltstadt in Tel Aviv genau für ihr Land Israel und für sich fordern. Aber jeder weiß: Die wollen was. Ihr „So geht es nicht weiter“ ist unspezifisch, unpräzise, unausgegoren vielleicht, aber eines ganz gewiss nicht: Unpolitisch.

Und in England? Die wollen bloß auch mal eine Playstation haben.

Auch viele Linke können nichts anfangen mit diesen Bildern: Von Revolution kann keine Rede sein. Klar sind das die entrechteten Underdogs, deren Perspektivlosigkeit irgendwann gewaltsame Folgen haben musste. Aber wo ist das Programm? Wo ist die Organisation? Es müssen ja nicht immer leninistische Kader sein, aber wenigstens ein bisschen schwarmintelligente Selbststeuerung über Twitter und Facebook wird man ja wohl verlangen dürfen. Aber nichts: Die Jungs tauchen auf, plündern und sind wieder weg. Lumpenproletariat eben.

Der Sicherheitsstaat – ein hohler Bluff

Nun ist bekannt, dass in England an jeder Straßenecke eine Videokamera steht. Niemand weiß genau, wie viele es sind, Schätzungen sagen 1,5 Millionen. Nirgends hat die Polizei einen solch umfassenden, jede Ecke ausleuchtenden Überblick darüber, was passiert und wer gerade wo die Gesetze bricht.

Das war zweifellos auch den Kapuzenjungs bekannt. Aber dann war es ihnen plötzlich scheißegal. Sie zogen die Kapuzen über den Kopf und das Halstuch übers Gesicht, schmissen die Schaufenster kaputt und stiegen ein. Sie schnappten sich, was sie kriegen konnten, und sahen, dass sie davon kamen. Zu Hunderten. Überall in der Stadt. Und dann überall im Land.

Sie sahen: Die kommt gar nicht, die Polizei. Die starrt auf ihre Videoschirme und kann es nicht fassen. Sie ist völlig hilflos, die Polizei.

Gestern waren 16.000 Polizisten in London, mehr Polizei, als je zuvor an einem Ort versammelt war. In London blieb es ruhig. Fein, dachten sich da die Kapuzenjungs in Manchester. Bei uns gibt es auch Geschäfte, die man plündern kann.

Die Videokameras sagten: Wir kriegen euch, wenn ihr die Gesetze brecht. Die Kapuzenjungs sagten: Das wollen wir doch mal sehen. They called their bluff, wie man in England schwerübersetzbarerweise sagt.

Ist das politisch? Aber hallo.

Big Society, big money

Sicherheit hängt davon ab, dass sich die Leute an die Gesetze halten wollen. Sie mit repressiven Mitteln dazu zu zwingen, funktioniert außerhalb Nordkoreas nur, wenn die Missetäter wenig und isoliert genug sind, um sie sich einzeln vorknöpfen zu können. Dass das so ist, das ist keine Frage von Wertentscheidungen, Interessen oder politischen Präferenzen, sondern nach den Nächten von London eine Tatsache, über die auch die lupenreinste libertär-konservative Weltanschauung nicht hinweghilft.

Großbritanniens Premier Cameron war auf dem Ticket angetreten, den teuren sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaat durch eine „Big Society“ zu ersetzen: die Zivilgesellschaft zu ermutigen, sich für soziale Belange zu engagieren, und so dafür zu sorgen, dass in der Gesellschaft wieder eine Humusschicht des Sozialkapitals entsteht, ohne dass sich nutzlose Bürokraten die ganze Zeit in die Angelegenheiten der Leute mischen.

Schöne Idee eigentlich. Nur, wer geglaubt hatte, damit ließe sich der Sozialstaat gleichsam privatisieren zur Entlastung des Haushalts, der täuscht sich. Die Kapuzenjungs von den Vorzügen der Rechtstreue zu überzeugen, kostet Geld, und zwar eine Menge.

Janz normalet Autoabfackeln

Gerade kam ich übrigens vor der Staatsbibliothek an den verkohlten Resten zweier ausgebrannter Autos vorbei. Die Karosserien, oder was von ihnen übrig war, hatte man schon fortgeschafft, aber es war auch so ein krasser Anblick: fußhoch Asche und Ruß, Scherben, Textilreste und die dünnen Drähte aus dem Gummiinneren der Reifen. Und die Hecke dahinter war einen halben Meter tief weggekokelt.

Zwei Zivilpolizisten machten gerade Fotos. Ich sprach sie an, ob das was mit London zu tun habe.

Sie lachten herzlich.

Nö, sagte einer. Dütt is janz normalet Berliner Autoabfackeln. Ham wa hier jeden Tach.

Will sagen: Solange es nur die guten alten Kreuzberger Autonomen waren, ist das unpolitisch. Aber wenn die Kapuzenjungs aus dem Wedding und aus Neukölln zu zündeln anfangen, dann ist das eine andere Sache.

Steve Jackson, Flickr Creative Commons

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