13. April 2016

Maximilian Steinbeis

Lügen-Verfassungsrichter in Thüringen? So weit kommt’s noch…

Das ist ein Vorgang, der über die Landesgrenzen des Freistaats Thüringen hinaus Beachtung finden sollte: Ein namhaftes Mitglied des Thüringer Verfassungsgerichtshofs, der Erfurter Staatsrechtslehrer Manfred Baldus, hat in einem heute verkündeten Urteil seinen Kolleg_innen auf der Richterbank kaum verhohlen vorgeworfen, die Gesetze der Logik, wenn nicht gar des Rechts zu verbiegen, um der Thüringer AfD its day in court vorenthalten zu können.

Worum geht es? Die AfD-Landtagsfraktion hatte vor dem Verfassungsgerichtshof beantragt, den so genannten Winterabschiebestopp für verfassungswidrig zu erklären. Die rot-rot-grüne Landesregierung hatte am 9. Dezember 2014 angeordnet, Flüchtlinge aus einer Reihe osteuropäischer und nahöstlicher Staaten während der Wintermonate bis März 2015 nicht mehr abzuschieben, da ihnen im dortigen Winter keine „Aufnahme in Sicherheit und Würde“ bevorstünde. Dies, so die AfD-Fraktion und ihr Prozessvertreter Karl Albrecht Schachtschneider, verstoße gegen das Rechtsstaatsprinzip und gegen das Willkürverbot. Die Mehrheit am Verfassungsgerichtshof ließ sich auf eine Prüfung nicht ein, sondern wies den Antrag als unzulässig ab: Die Anordnung sei eine rein ermessensleitende Verfügung ohne Rechtsnormcharakter, die auf dem Weg der abstrakten Normenkontrolle nicht angegriffen werden könne.

Ich kann das nicht abschließend beurteilen, daher bitte ich die folgenden Überlegungen als Diskussionsanstoß zu verstehen. Aber wenn ich recht habe, dann wäre es gut, wenn dem von Herrn Baldus (dem ich im Übrigen keine Nähe zur AfD unterstellen möchte) aufgeworfenen Zweifel an der Rechtschaffenheit seiner acht Verfassungshüterkolleg_innen von Seiten der Rechtswissenschaft möglichst schnell und möglichst unmissverständlich widersprochen würde. Lügen-Verfassungsrichter – so weit kommt’s noch…

Das Mehrheitsvotum argumentiert so: Der Winterabschiebungsstopp beruht auf § 60a AufenthG, der besagt, dass die oberste Landesbehörde die Abschiebung von Ausländern ohne Aufenthaltsrecht insbesondere aus humanitären Gründen für eine bestimmte Zeit aussetzen könne. Wenn sie von dieser Möglichkeit Gebrauch macht, so die Mehrheit, sei das kein Verwaltungsakt und keine Rechtsverordnung, die die Rechtssituation dort draußen verändert, sondern bloßes „Innenrecht“ der Verwaltung, eine Ansage von oben nach unten, wie die Ausländerbehörden ihr Ermessen auszuüben habe. Dafür spreche schon die Tatsache, dass diese Ansage als „Anordnung“ bezeichnet und nirgends als formeller Rechtsakt veröffentlicht worden sei.

Aber es gebe auch materielle Gründe, das so zu sehen: Ausländer ohne Aufenthaltsrecht, so die Mehrheit, sind und bleiben zur Ausreise verpflichtet, und diese Pflicht ist und bleibt vollziehbar. Es gebe kein Ermessen der Ausländerbehörden zum „Ob“ der Abschiebung, wohl aber zum „Wann“ und zum „Wie“: Und wie sie dieses Ermessen ausübt, das reguliere die oberste Landesbehörde, wenn sie nach § 60a Abs. 1 AufenthG per Anordnung die Pflicht zur Abschiebung für bestimmte Leute und eine bestimmte Zeit suspendiert.

Hilfsweise stützt sich die Mehrheit auch noch auf die Rechtsprechung des BVerwG, das die Weisung nach § 23 Abs. 1 AufenthG, aus humanitären Gründen bestimmten Ausländern eine Aufenthaltsgenehmigung zu erteilen, als bloßes Verwaltungs-Innenrecht qualifiziert. Zu § 60a AufenthG gebe es eine solch eindeutige Ansage aus Leipzig zwar nicht, aber dass das BVerwG in diesem Zusammenhang das Wort „Erlass“ verwende, sei doch immerhin ein Indiz.

Und was sagt Richter Baldus? Den empört zunächst, dass sich seine acht Kollegen an die Auslegung des BVerwG so strikt gebunden fühlen. Offenbar gab es im Beratungszimmer einen Riesenstreit über die zweifellos akademisch höchst interessante Verfassungsfrage, inwieweit und aus welchen Gründen die Bundestreue von Landesverfassungsgerichten verlangt, Bundesrecht stets und überall genauso auszulegen wie die dazu berufenen Bundesgerichte (nicht einschlafen!), zumal die Mehrheit eine Veröffentlichung eines ihrer Mitglieder zitiert, des Präsidenten des OVG Thüringen Hartmut Schwan, eine Veröffentlichung, die wiederum Richter Baldus als „Solitär“ bezeichnet, voller falscher Zitate und widersprüchlicher Argumente und „in dieser kruden und differenzierungslosen Gestalt kaum mehr vertreten“, kurzum: hier balgen sich zwei Rechtsgelehrte um die nicht alternativlose Begründung einer nicht entscheidungserheblichen Argumentationslinie, was man wohl auch einfach mal hätte bleiben lassen können.

Wichtiger ist die Frage, wie es denn nun aussieht mit Innen- und Außenwirkung der Anordnung eines Abschiebestopps. Was das formelle Argument betrifft, die Anordnung sei als solche bezeichnet und nach außen nicht kommuniziert worden, sagt Baldus mit einer gewissen Berechtigung, dann bräuchte ja die Exekutive nur immer „Anordnung“ draufschreiben und sich so jeder Bindung an Art. 80 GG entziehen. Entscheidend ist aber das materielle Argument, und das bezeichnet Baldus als „mehr als nur überraschend, sondern schlicht unverständlich“, da auf einem „a-logischen Sprung“ beruhend.

Wie das? Wenn ich das richtig deute, was Baldus schreibt, hat die Ausländerbehörde, wenn ein Abschiebestopp verhängt ist, gar kein Ermessen mehr hinsichtlich des „Wie“ und des „Wann“, sondern sie darf nicht mehr abschieben lassen und Punkt. Das, so Baldus, sei doch „offenkundig“, und dass die Mehrheit trotzdem noch mit dem „Wie“ und „Wann“ herummache, findet er „mysteriös“.

Vielleicht liegt das daran, dass ich genauso wenig Jura kann wie Hartmut Schwan… aber ich verstehe das nicht. Darum geht es doch gar nicht, oder? Die Ausländerbehörde, wenn sie jemanden abschieben lassen muss, hat zu entscheiden, wie und wann das geschehen soll, und die oberste Landesbehörde weist sie an, das jedenfalls nicht vor dem 31. März 2015 zu tun. Wo da der „a-logische Sprung“ liegen soll, sehe ich nicht. Wenn ihn jemand sieht, bin ich um Aufklärung dankbar.

Außerdem, so Baldus, wolle die Mehrheit partout nicht sehen, dass die Anordnung sehr wohl unmittelbare rechtliche Außenwirkung nach sich zieht und die Rechtsposition der betroffenen Ausländer verändert, die nämlich einen Anspruch auf eine Duldung bekommen, nicht mehr abgeschoben werden dürfen, nicht mehr wegen unerlaubten Aufenthalts strafrechtlich belangt werden können – und all dies ohne weitere administrative Entscheidung, also unmittelbar. Alles richtig – aber formell ist es doch die Ausländerbehörde, wenngleich gebunden an die Weisung der obersten Landesbehörde und dann ohne Ermessensspielraum, die über die Duldung entscheidet, oder nicht? Und das ist dann der Rechtsakt mit Außenwirkung, oder nicht?

Wie gesagt, vielleicht liege ich ganz falsch, und Baldus hat völlig Recht, wenn er mit der Linie der Mehrheit nicht einverstanden ist. Das mögen Kundigere entscheiden. Was ich aber wirklich einen Hammer finde, ist der letzte Absatz seines Minderheitsvotums. Dort „fragt“ sich Baldus kopfkratzend, warum die Mehrheit, anstatt sich der „doch durchaus leicht zu gewinnenden Erkenntnis“ der Richtigkeit seiner Position zu öffnen, „sich statt dessen auf eine nur äußerst schwach untermauerte Literaturmeinung stützt, ein offenkundig a-logisches Argument präsentiert und vor allem aber den entscheidenden Aspekt der unmittelbaren Außenwirkung ausblendet“. Ja, warum nur?

Auf diese von ihm selbst gestellt Frage hin macht Baldus, wenn ich das so sagen darf, den Böhmermann:

Möglicherweise sollte vermieden werden, weitere Zulässigkeitsfragen entscheiden und gegebenenfalls in die Prüfung der Begründetheit eintreten zu müssen. Als Mitglied des Verfassungsgerichtshofs steht es mir jedoch nicht an, dazu hier in an diesem Ort weiter Stellung zu nehmen. Ich erlaube mir jedoch den abschließenden Hinweis auf die Vermutung eines der namhaftesten deutschen Rechtssoziologen, wonach die Entscheidungsgründe wohl „immer nur vorletzte Gründe“ sind (vgl. Niklas Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1995, S. 406).

Das ist sehr nobel von Baldus, solcherart der Versuchung, seine Kolleg_innen niedriger Beweggründe zu verdächtigen, zu entsagen. Die werden ihm diese vornehme Zurückhaltung bestimmt hoch anrechnen. Noch dazu mit Luhmann-Zitat!

Aber da fällt natürlich niemand drauf rein. Tatsächlich sagt Baldus, dass diese Entscheidung nur zustande gekommen ist, um der Regierung zu helfen und deren politischen Gegner um sein gutes Recht zu bringen. Eine schlimmere Anschuldigung gegen ein Verfassungsgericht gibt es kaum.

So oder so scheint mir diese Entscheidung all jenen Argumentationsmaterial zu liefern, die die Veröffentlichung von abweichenden Meinungen schon immer skeptisch sahen (den EuGH zum Beispiel). Ich bin ja eigentlich ein großer Fan davon: um keinen Preis würde ich die Sondervoten von Gertrude Lübbe-Wolff beim BVerfG missen wollen, und auch beim EGMR gibt es jeden Tag Belege genug, wie belebend und informativ und letztlich rechtsbefriedend es sein kann, offen zu legen, dass man bestimmte Rechtsfragen völlig legitimermaßen so oder auch anders sehen kann und sieht. Wenn aber wie hier das Sondervotum eingesetzt wird, um die juristische Qualifikation oder gar die politische Motivation der anderen Seite in Zweifel zu ziehen, dann delegitimiert das das Gericht – wenn diese Behauptung falsch ist, dann sowieso, und wenn sie, behüte!, richtig ist, dann um so mehr.

Für die AfD und alle, die den Institutionen des Verfassungsstaat nicht mehr trauen, ist das jedenfalls supergut gelaufen. Gratuliere, Björn Höcke. So macht Verlieren Spaß.

Update: Aus gegebenem Anlass – die Aussage, dass ich vielleicht so wenig Jura kann wie Hartmut Schwan, war natürlich sarkastisch gemeint. Ironiefalle… Ich habe nicht den geringsten Anlass zu zweifeln, dass Hartmut Schwan ein ausgezeichneter Jurist ist. Außerdem habe ich in the heat of the moment leider seinen Vornamen verwechselt und Herbert Schwan geschrieben (jetzt korrigiert), wofür ich mich entschuldige.

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