18. Mai 2012

Maximilian Steinbeis

L’Uom di Sasso! L’Uomo Bianco!

Ich bin gerade in Turin auf einer Konferenz über Societal Constitutionalism (sehr faszinierend, ich werde noch gesondert darüber berichten). Unter den Präsentationen heute war eine, die mich nicht nur intellektuell, sondern auch emotional besonders berührt hat.

Christian Joerges, der Bremer grand old man of Europarecht, arbeitet seit geraumer Zeit an dem Projekt, die eigentlichen Ziele und Legitimationsgrundlagen der europäischen Integration zu ergründen, jenseits der bloßen Planierung nationaler Rechtsunterschiede, um Handel und Kapital möglichst freie Bahn zu verschaffen. Nach seiner Theorie des „conflict-law constitutionalism“ ist die EU vor allem dazu da, die Demokratiedefizite der Nationalstaaten zu kompensieren: Nationale Demokratien sind blind für die externen Wirkungen ihrer Entscheidungen und nicht besonders gut darin, Probleme durch Kooperation und Selbstregulierung zu lösen. Die EU füllt diese Lücke, und das macht sie als potenzielles Vorbild auch für andere Regionen der Welt interessant.

Aber dann kam die Krise. Und die hat Joerges‘ Glauben an dieses liebenswürdige Bild der EU offenbar einen fatalen Schlag versetzt.

Um das zu illustrieren, inszenierte Joerges eine Art fiktiven Dialog zwischen zwei widerstreitenden Denkern: Jürgen Habermas und Carl Schmitt.

Mit Habermas teilt er die Diagnose, dass die gegenwärtige Krisenbewältigungsstrategie der EU Demokratie und Rechtsstaatlichkeit im Kern bedroht und die EU in akuter Gefahr ist, zu einem autoritären Exekutivapparat zu degenerieren. Was er nicht teilt, ist Habermas‘ Glauben, dass die Krise die Chance zu einer aggressiven Demokratisierung Europas in sich berge, zu welcher sich Europa jetzt entscheiden müsse (entscheiden! – da tauchte Carl Schmitts Gespenst zum ersten Mal auf). Wie denn, fragte Joerges. Wer soll diese Entscheidung denn organisieren?

Habermas lebt, aber Carl Schmitt ist lange tot. Dessen Großraumtheorie mit ihrer Prognose, dass im neuen Europa die Exekutive die Legislative an den Rand drängen werde und am Ende die Diktatur der Technizität drohe, stammt aus den 30er Jahren und ist doch, so Joerges, erschreckend aktuell. Dazu kommt, dass man die handstreichartige Außerkraftsetzung des Bailout-Verbots und das Maßnahmenregime der Krisenbekämpfung im Schmittschen Sinne als Ausnahmezustand bezeichnen kann, in dem die Bindung an Recht und Verfassung zugunsten eines ungezügelten Dezisionismus außer Kraft gesetzt ist.

Gewissen Trost fand Joerges allein in der Tatsache, dass weit und breit kein unilateraler „Reichspräsident“ sichtbar ist, der sich in diesem Ausnahmezustand zum kommissarischen Diktator aufschwingt. Das übernehme stattdessen das „Co-Management“ von Kommission und Regierungschefs. In jedem Fall aber habe dieses technokratische Maßnahmenregime mit einer EU, das demokratische Defizite der Nationalstaaten kompensiert und daraus ihre Legitimation bezieht, nicht mehr viel zu tun. Carl Schmitt, so Joerges‘ bitteres Fazit, habe gewonnen.

Regelrecht gruselig wurde es, als mitten in Joerges‘ Vortrag hinein der Saal plötzlich von ohrenbetäubend lauten Hammerschlägen erschüttert wurde (nebenan wurde gebaut).

Joerges brach den Moment unbehaglichen Schweigens im Saal mit den Worten: „Das ist Schmitt!“

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