22. Januar 2015

Maximilian Steinbeis

Mehr Akzeptanz für Europa – ein verfassungspolitisches Problem?

Die Zahl der Menschen in Europa, die der europäischen Integration am liebsten den Hals umdrehen würden, hat ein Ausmaß erreicht, das wir nicht mehr ignorieren können. In Frankreich würde, wenn jetzt Europawahlen wären, der Front National zur stärksten Partei, in Großbritannien ist es die UKIP bereits. Wir müssen etwas machen. Nur was?

An dieser Frage scheiden sich im Verfassungsrecht die Geister. Das wurde bei einer höchst lohnenden Veranstaltung am Wissenschaftskolleg hier in Berlin mit Dieter Grimm, Christoph Möllers und Deirdre Curtin zum Thema „Legitimationsressourcen und Legitimationsdefizite der EU“ offenbar, bei der ich letzte Woche war. Soll man den grassierenden Euroskeptizismus als Zeichen nehmen, dass tatsächlich etwas kaputt ist im Verfassungsgefüge der Union, das repariert werden muss? Oder haben wir es mit einer Art Euro-PEGIDA zu tun, gegen deren Ängste und Ressentiments verfassungspolitisch kein Kraut gewachsen ist und von denen uns treiben zu lassen wir uns hüten sollten?

Ist die EU überkonstitutionalisiert?

 

Den Anfang machte Dieter Grimm mit einer faszinierenden Analyse, was es mit den Akzeptanzproblemen der Union überhaupt auf sich hat. Die Antwort: so arg weit war es mit der Akzeptanz vielleicht noch nie her. Anfangs seien die Menschen von Europa begeistert gewesen, weil die Integration die Kriegsgefahr in Mittel- und Westeuropa verringerte, was heute niemanden mehr erschreckt. Die folgende wirtschaftliche Integration habe sich durch ihren wirtschaftlichen Nutzen legitimiert, aber die Integration als politischen Prozess eher zugedeckt. Als die Bürger mit dem Maastricht-Vertrag merkten, wie weit die Integration bereits gediehen war, offenbarte sich schnell, dass viele sich das so gar nicht vorgestellt hatten. Alle Versuche, diesen Akzeptanzschwund durch institutionelle Reformen zu stoppen, seien gescheitert.

Die Wurzel des Problems sieht Grimm in der „Überkonstitutionalisierung“ des Europarechts, betrieben seit 50 Jahren vor allem vom EuGH in Luxemburg. Dieser lege die Verträge wie eine Verfassung aus, nicht am Willen der Vertragsparteien, sondern an ihrem objektiven Gehalt orientiert. Die Union gewinne immer mehr Kompetenzen, die Mitgliedsstaaten verlieren immer mehr, und das nicht in politischer Auseinandersetzung, sondern durch gerichtliche Einzelfallentscheidung. Diese Macht des EuGH habe obendrein die Folge, dass die „negative Integration“ (Fritz Scharpf) die positive völlig verdrängt. Der Union durch Vertragsänderung Kompetenzen zu geben, ist kaum noch möglich, den Mitgliedsstaaten mit einem Federstrich des Gerichtshofs welche zu nehmen dagegen um so leichter.

Wären die Verträge tatsächlich eine Verfassung, die politische Entscheidungen regelt, aber nicht selber trifft, dann wäre das vielleicht nicht so schlimm – aber das sind sie nicht. Sie grenzen die Kompetenzen nicht nach Sach-, sondern nach Finalkriterien ab. Die Union hat die Freiheit des Warenverkehrs durchzusetzen – als Hindernis für den freien Warenverkehr könne aber buchstäblich alles ausgelegt werden. Die Folge seien einerseits Über-, andererseits Unterregulierung: Staatliches Recht wird vernichtet, aber europäisches Recht tritt nicht unbedingt an seine Stelle. Allerorten dürften die Mitgliedsstaaten nicht mehr regulieren, und die Union könne nicht. Glück für Liberalisierer und Deregulierer, Pech für die Freunde des Sozialstaats.

Je mehr Verfassungsrecht, desto weniger Demokratie

Was in der Verfassung steht, ist der Politik entzogen. Man kann darüber nicht mehr einfach abstimmen und die Mehrheit entscheiden lassen. Dazu sind Verfassungen schließlich da.

Wenn man nun die europäischen Verträge wie Verfassungen behandelt, dann, so Grimm, trockne das die Demokratie aus, und zwar vor allem in den Mitgliedsstaaten. Die Bürger könnten keinen Einfluss mehr nehmen, die demokratischen Organe, die sie repräsentieren, auch nicht. Und da die demokratische Legitimation der Mitgliedsstaaten einer der Legitimationsäste ist, auf denen die Union sitzt, gehe dies am Ende auch zu ihren Lasten. Der andere Legitimationsast, das Europäische Parlament, könne die Bürde nicht auffangen, solange das Wahlverfahren und die Zusammensetzung des Parlaments so unrepräsentativ sei wie jetzt.

Grimm hat dabei keineswegs im Sinn, die Union zu einer reinen Wirtschaftsgemeinschaft zurückzuentwickeln oder gar abzuschaffen. Von nationalkonservativen Ressentiments ist er völlig frei. Stattdessen fordert er drei konkrete, wenngleich ziemlich radikale Schritte:

Erstens solle das Europäische Parlament künftig tatsächlich ein europäisches Parlament sein – gewählt nach europäischem Wahlrecht und mit europäischen Parteien, die in sich die nationalen Interessen bündeln und europäische Programme zur Wahl stellen.

Zweitens solle in den Verträgen die Kompetenzen von Mitgliedsstaaten und Union nach Sach- und nicht nach Finalkriterien abgegrenzt werden, wie in allen Bundesstaaten üblich.

Drittens sollten die Verträge, wenn sie schon derart konstitutionalisiert würden, dann auch tatsächlich auf das zurückgeführt werden, was Verfassungen enthalten: nämlich Regeln, was wie politisch entschieden wird, statt der Entscheidung selbst.

Hat Grimm die Hoffnung, dass diese drei Vorschläge in absehbarer Zeit umgesetzt werden? Die hat er nicht, er ist ja nicht naiv. Dennoch, so seine abschließenden Worte, lohne es sich, darauf hinzuweisen, dass es Wege gibt, die Krise zu lösen. Denn das sei Aufgabe der Wissenschaft, die sie nur in Distanz zur Politik erfüllen kann.

Akzeptanzkrise oder nur unsere eigenen Ambivalenzen?

Christoph Möllers‘ Vortrag war von grundlegend anderer Natur als der von Dieter Grimm. Keine große Erzählung, keine aufregende, die verwirrende Vielzahl von Befunden bündelnde Diagnose, keine packende Liste handfester Handlungsempfehlungen – stattdessen spazierte Möllers mit der ihm eigenen Unbekümmertheit durch den Vortrag des Meisters und heftete überall, wo es ihm passend erschien, ein Fragezeichen an.

Die EU als verselbständigtes, gegen politische Prozesse total immunisiertes Monster – ist das wirklich der Stand der Integration? Was ist mit der widersprüchlichen Erwartung der nationalen Politiker und Völker, die Vorteile der Integration zu ernten, aber ihre Folgen nicht verantworten zu müssen? War nicht allen Beteiligten, Adenauer allen voran, von Anfang an klar, dass das kein Völkerrecht war, was sie da unterschrieben? Hat nicht die Kommission seit 20 Jahren gegenüber den Mitgliedsstaaten stetig an Einfluss verloren, unter schwachen Präsidenten, die sich kaum zu rühren trauten vor lauter Respekt vor den nationalen Regierungschefs? Ist der EuGH wirklich ein Verfassungsgericht und nicht vielmehr ein Supreme Court – der wie in allen Verfassungsordnungen, die auf politischem Weg schwer zu ändern sind, in Kompetenzfragen großzügig agiert?

Waren Liberalisierung und Sozialstaatsabbau wirklich etwas, das die Mitgliedsstaaten konstitutionell gefesselt und unter Zähneknirschen hinzunehmen gezwungen waren und nicht vielmehr deren höchst eigenes Projekt? Hat sich wirklich die Macht der EU geändert und nicht vielmehr unsere Anschauung, wenn wir etwa Freihandelsabkommen, die wir vor 20 Jahren toll fanden, heute nicht mehr mögen? Stimmt Fritz Scharpfs Diagnose von der negativen Integration und der daraus resultierenden Unterregulierung? „Wo sind eigentlich die großen Regelungslücken? Wo ist das Recht, das wir hatten, aber nicht mehr haben?“ Was ist mit Geschlechterdiskriminierung? Datenschutz? Umweltrecht?

Natürlich gebe es viele Probleme in der EU – aber die Kompetenzordnung? Sind das nicht eigentlich bloße „Juristenprobleme“? Gibt es nicht andere, viel greifbarere und konkretere und drängendere Probleme, die dringend nach Lösung verlangen? Ungarn? Euro? Föderaler Zerfall in Spanien und UK? Die Toten im Mittelmeer?

Natürlich gebe es viel Unbehagen in der Bevölkerung gegenüber der Euro und EU – aber hat das nicht in Wahrheit genauso wenig mit den tatsächlichen Problemen von Euro und EU zu tun wie das Unbehagen in Sachsen mit den Ausländern in Sachsen?

Lösungen? „Es ist das Privileg großer Wissenschaftlergenerationen, große Lösungen anzubieten“, sagte Möllers zuletzt – mit Nachdruck „ohne jede Ironie“ – und nannte Jürgen Habermas, Dieter Grimm, Fritz Scharpf, Hans-Ulrich Wehler mit Namen. „Es ist das zweifelhafte Privileg nachfolgender Generationen, diese Lösungen kleinzuarbeiten.“ So viele Vertragsänderungen habe es gegeben, so viel sei passiert in den letzten 20 Jahren. „Es gibt keine Lösung. Es gibt das, was wir haben. Und wir müssen irgendwie damit arbeiten.“

Vom Beruf unserer Zeit zur europäischen Verfassungsgebung

Ich muss gestehen, mir geht es ähnlich wie Christoph Möllers. Ich bin ja immer gern dafür zu haben, meine verfassungspolitische Fantasie anregen zu lassen. Aber als konkretes Projekt, für das ich mich politisch und publizistisch ins Zeug legen würde, scheint mir eine fundamentale Verfassungsreform der Union ungeeignet.

Sicher, die EU hat viele Feinde, und wenn es zu viele werden, dann kann ihr das gefährlich werden. Aber gibt es nicht, wenn wir schon ans Vertragsändern gehen, eine Menge von Krisen und Problemen in der EU, die viel lauter nach einer Lösung schreien als diese ad nauseam diskutierte, zwei Jahrzehnte und mehr überspannende so genannte Legitimations- und Akzeptanzkrise? Wird das Bild nicht viel schärfer und interessanter, wenn wir innerhalb der großen Unerfreulichkeits-Wolke, die sich um die EU zusammengeballt hat, auf spezifische Problemstellungen fokussieren?

Die Strukturprobleme der Währungsunion sind ungelöst, und mit bloßem Weiterwursteln und Ad-Hoc-Zupflastern ihrer Folgen droht uns ein japanisches Szenario jahrzehntelanger Stagnation. Was in Ungarn passiert, ist wirklich furchtbar, und EU-Kommission und Rat fällt im Rahmen der bestehenden Verträge offenkundig nichts Adäquates dagegen ein. Die europäische Flüchtlingspolitik im Mittelmeer ist ein zum Himmel stinkender Skandal, an dem die Bundesregierung ein gehöriges Maß an Mitschuld trägt. Was Russland an der Ostgrenze der Union treibt, verlangt uns alles an diplomatischem und auch militärischem Gewicht ab, was wir auftreiben können.

Lösen wir diese Probleme. Das wird schwer genug. Aber wenn wir das schaffen, dann haben wir all jenen, die die Nase rümpfen oder die Fäuste schütteln gegen Brüssel, etwas Handfestes entgegenzusetzen. Für Verfassungsrecht, das wissen wir – Hand aufs Herz – doch alle, interessiert sich da draußen kein Mensch. Die EU war immer dann populär, wenn sie erfolgreich war. Wenn die Leute spüren, dass die EU sie beschützt und für etwas gut ist und kein schüchterner, bürokratisch aufgeblasener, von jedem Provinzpolitiker herumscheuchbarer Popanz ist, dann wird man sich um ihre Akzeptanz nicht sorgen müssen.

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