23. September 2010

Maximilian Steinbeis

Mehr Freiheit für das klerikale Liebesleben


Passend zum Juristentag hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte heute zwei Urteile gefällt, die das Thema Staat und Religion im Kern betreffen.

Wie verhält sich die Autonomie der Religionsgemeinschaften, ihre inneren Angelegenheiten selbst zu regeln, zu den Grundrechten der Religionsangehörigen, die von diesen Regelungen betroffen sind? Oder konkret: Darf eine Kirche, die das Sakrament der Ehe predigt, einen Angestellten feuern, wenn der die Ehe bricht?

Im einen Fall ging es um den Pressesprecher der Mormonenkirche, der eine Affäre angefangen und dies gebeichtet hatte und daraufhin seinen Job verlor.

Im anderen hatte ein katholischer Organist, lange nachdem er sich von seiner Frau getrennt hatte, mit seiner neuen Freundin ein Kind bekommen und war daraufhin gekündigt worden.

Auch Ärzte und Buchhalter müssen Christum nachfolgen

In Deutschland wird das Verhältnis Selbstbestimmungsrecht der Kirchen zu Freiheitsrechten der Kirchenangestellten seit einem – einigermaßen bizarren – Urteil des BVerfG (Zweiter Senat) von 1985 sehr kirchenfreundlich gehandhabt: Wer einen Job bei einer Kirche annimmt, muss sich im Wesentlichen deren moralischen und politischen Verhaltensanordnungen beugen.

Und zwar ganz egal, welchen Job: Wenn die Kirche findet, selbst der Hausmeister müsse das Evangelium in Wort und Tat bezeugen, dann hat ihr da niemand reinzureden. Das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen umfasse auch das Recht, selbst zu bestimmen, welche Tätigkeit sie als kirchennah erachtet und welches Verhalten sie dabei fordert:

Im Streitfall haben die Arbeitsgerichte die vorgegebenen kirchlichen Maßstäbe für die Bewertung vertraglicher Loyalitätspflichten zugrunde zu legen (…).

Ein Arzt bei einem kirchlichen Krankenhaus darf somit keinen Leserbrief gegen § 218 StGB unterschreiben und ein Buchhaltereines kirchlichen Jugendwohnheims nicht aus der Kirche austreten, ohne befürchten zu müssen, ihren Lebensunterhalt zu verlieren.

Die Meinungs- bzw. negative Glaubensfreiheit beider kommen in dem BVerfG-Urteil von 1985 so gut wie überhaupt nicht vor.

Recht auf Privatleben

Da geht der EGMR doch deutlich anders vor: Ausgangsfrage ist, ob das Recht auf Privatleben (Art. 8 ) den Klägern einen Anspruch gegen die bundesdeutsche Justiz gibt, sie vor den Zwängen für ihre private Lebensführung in Schutz zu nehmen, die ihre kirchlichen Arbeitgeber ihnen auferlegen wollen.

Ein Fall von Grundrechtekollision, sagt der EGMR – und gibt im einen Fall dem Recht der Kirche auf Religions- und Vereinigungsfreiheit, im anderen dem Recht des Klägers auf Privatleben den Vorzug.

Der Mormone wurde zu Recht gefeuert, weil er als öffentliches Gesicht einer Kirche, die den Ehebruch verdammt, tatsächlich ziemlich komisch ausgesehen hätte.

Was den katholischen Organisten betrifft, so hätte dagegen das Arbeitsgericht seine Situation als frisch gebackener Familienvater und seine Abhängigkeit von der katholischen Kirche als einzigem in Frage kommenden Arbeitgeber stärker berücksichtigen müssen.

Konflikt mit dem BVerfG?

Das klingt vernünftig und pragmatisch, scheint mir aber an einem Punkt unvereinbar mit den (allerdings ein Vierteljahrhundert alten) Vorgaben des BVerfG. Dessen Ansage, dass für die Qualifikation der Tätigkeit und des Verhaltens allein das Kirchenrecht maßgeblich sei, widerspricht nämlich der EGMR entschieden:

Die Arbeitsgerichte, so der EGMR im Urteil Schüth, dürften keineswegs den kirchlichen Standpunkt, was die Kirchlichkeit der Tätigkeit und die Unvereinbarkeit des Verhaltens damit betrifft, einfach übernehmen. Wenn das Recht auf Privat- und Familienleben mit im Spiel sei,

la Cour considère qu’un examen plus circonstancié s’imposait lors de la mise en balance des droits et intérêts concurrents en jeu (…), d’autant qu’en l’espèce le droit individuel du requérant s’opposait à un droit collectif.

Irre ich mich oder killt das das BVerfG-Urteil von 1985?

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