15. Januar 2013

Hans Michael Heinig

Mehr Wissenschaft in der Rechtswissenschaft

Als erste juristische Fachgesellschaft in Deutschland hat die Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer auf die Plagiatsaffären der jüngeren Vergangenheit reagiert und auf ihrer letzten Jahrestagung in Kiel in einem Akt der Selbstvergewisserung nahezu einmütig 50 Leitsätze zur guten wissenschaftlichen Praxis im Öffentlichen Recht beschlossen. Diese Leitsätze sind seit kurzem im Internet abrufbar. Das Spektrum des Papiers reicht von Fragen der Autorschaft über Zitierregeln und Details der Promotionsbetreuung bis hin zu Transparenz bei Gutachten und Zweitveröffentlichungen.

Wissenschaftsbetrug wird es immer wieder geben. Keine Disziplin ist davor gefeit. Aber jedes Fach ist gut beraten, Vorkehrungen zu treffen, die sich den disziplinären Eigenheiten fügen – auch, damit nicht plötzlich die häufig meinungsstarke und urteilsarme Schwarmintelligenz der Wissenschaft ins Stammbuch schreiben kann, was fachliche Standards sind.

Der wissenschaftliche Nachwuchs sollte das Papier der Staatsrechtslehrer genau studieren, um Fehler zu vermeiden und sich selbst zu schützen. Hochschulleitung und Professorenschaft sind gefordert, den Fakultätsbetrieb entsprechend auszurichten und wo nötig, neu zu justieren: Die Betreuung von Promovierenden ist zeitaufwändig; mehr als zehn Doktoranden können nicht ernsthaft begleitet werden. Die Gutachten für Dissertationsschriften sind in der Regel innerhalb von drei Monaten zu erstellen. Wissenschaftlichem Nachwuchs ist ausreichend Gelegenheit zu eigener Forschung zu geben. Habilitanden sollen selbständig lehren können. Wer Textentwürfe liefert, hat Anspruch auf Ausweis seiner Autorenschaft. Im Umkehrschluss heißt das auch: Es ist schlechte wissenschaftliche Praxis, Lehrbücher und Kommentare von Mitarbeiter schreiben zu lassen und dann unter eigenem Namen zu veröffentlichen. Es verstößt gegen das Ethos der Wissenschaft, Promovierende nur zweimal, nämlich bei der Ausgabe des Themas und der Abgabe der Arbeit, zu sehen. Doktoranden müssen nicht hinnehmen, dass die Dissertationsschrift nach Abschluss des Verfahrens nur noch von rechtshistorischem Interesse ist, weil die Gutachter sie liegen lassen. Man mag über den Umfang solcher Erscheinungen streiten. Einig ist sich die Wissenschaft vom Öffentlichen Recht jedenfalls in einem: Das gehört sich nicht!

Das Papier widmet sich auch Fragen der Organisation und der Verfahren: feste Prüferpaare müssen vermieden werden, um den Kontrolleffekt nicht zu unterminieren. Qualifikationsschriften sollten auch in elektronischer Form eingereicht werden, um Stichproben in Datenbanken und Suchprogrammen zu erleichtern. Bewertungen haben den Beitrag einer Dissertation zum wissenschaftlichen Fortschritt präzise zu benennen. Die mündliche Doktorprüfung soll zu Teilen der Verteidigung der Arbeit dienen, um die intellektuelle Urheberschaft prüfen zu können.

Mit anderen öffentlich diskutieren Vorschlägen mochte sich die Staatsrechtslehrervereinigung nicht anfreunden: obligatorische externe Drittgutachten bei mit der Höchstnote bewerteten Dissertationen sind nicht sonderlich hilfreich. Der Nutzen eidesstattlicher Versicherungen wird gemeinhin überschätzt. Neben Graduiertenschulen soll die Individualbetreuung, neben den an den Lehrstühlen beschäftigten Mitarbeitern sollen externe Doktoranden möglich bleiben. Entscheidend ist mit anderen Worten nicht die Form, sondern die Qualität der Betreuung. Der Ansatz lässt sich hören, wenn er denn konsequent umgesetzt wird.

Mit diesen Leitsätzen der Vereinigung korrespondieren vom Wissenschaftsrat jüngst präsentierte „Perspektiven der Rechtswissenschaft in Deutschland“. Das Papier analysiert ausführlich den Ist-Zustand der Rechtswissenschaft und empfiehlt strategische Weichenstellungen in der Lehre, der Forschungspraxis und der Forschungsförderung. Nur ein kurzer Abschnitt widmet sich ausdrücklich den Fragen guter wissenschaftlicher Praxis. Doch zeigt der Wissenschaftsrat, wie die von der Vereinigung der Staatsrechtslehrer aufgestellten Regeln und Verfahren eng mit den Herausforderungen innovativer und qualitätsvoller Forschung und Lehre zusammenhängen. Der Wissenschaftsrat fordert eindringlich eine stärkere „Kultur der Wissenschaftlichkeit“ (dazu auch FAZ vom 21. April 2011): Die Internationalisierung und Europäisierung des Rechts betrifft nicht nur Forschungsgegenstände, sondern fordert Anpassungen in der Forschungspraxis: mehr ausländische Gastwissenschaftler an den deutschen Fakultäten, mehr Rechtsvergleichung, mehr Publikationen in englischsprachigen Organen. Die Dominanz der Kommentare, Lehrbücher und praxisnahen Zeitschriftenliteratur in den Publikationsgattungen der Rechtswissenschaft erscheint der Kommission des Wissenschaftsrates als Mangel: neben herausragenden Werken findet sich zu viel oberflächliche Massenware mit zu wenig wissenschaftlichem Erkenntnisgewinn. Marktinteressen drohen das Erkenntnisinteresse zu dominieren, so die Diagnose. Um der Hyperspezialisierung in immer weiter ausdifferenzierten Teildisziplinen entgegenzuwirken, sollte sich die Rechtswissenschaft stärker mit den gemeinsamen Grundlagen unter Einbeziehung der Nachbarwissenschaften beschäftigen.

Das hat laut Wissenschaftsrat auch Konsequenzen für die Lehre. Das Studium ist zu einseitig auf die Vermittlung von positivem Normwissen und den didaktischen Typus der Falllösung ausgerichtet. Mehr Reflexionswissen, mehr Grundlagenkompetenzen und mehr Methodenbewusstsein sind gefordert. Das Curriculum zum geltenden Recht gehört entschlackt. Die Grundlagenfächer sind zu stärken und in die Lehre des positiven Rechts zu integrieren – nicht als ars gratia artis, sondern um die Fähigkeit der Studierenden zur Systematisierung, Analyse und Kritik zu schärfen.

Die meisten dieser Beobachtungen und Empfehlungen sind richtig, aber nicht neu. Zum Beharrungsvermögen in der deutschen Rechtswissenschaft trägt nicht zuletzt ein beträchtlicher der Teil der Studierenden bei, der allen bisherigen Anstrengungen zur Intellektualisierung der juristischen Ausbildung ausweicht und sich zur Not den Seelentröstern der professionellen Repetitorien anvertraut. Wie diese Studierenden in einem Massenfach (noch dazu bei doppelten Abiturjahrgängen) für eine gehaltvolle Wissenschaft vom Recht begeistert werden können, lässt der Wissenschaftsrat offen.

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