Im letzten Sommer hat das Bundesverfassungsgericht in einer ganzen Serie von Kammerentscheidungen das Grundrecht auf Meinungsfreiheit entmoralisiert (siehe hier und hier). Nicht die in den jeweiligen Amts- und Landgerichten vorherrschende Vorstellung von gutem Benehmen ist der Maßstab, an dem sich entscheidet, was zu sagen einem verboten werden kann und was nicht, sondern der mit dem Gesagten angerichtete Schaden. Natürlich kann ein Gericht weiterhin Unverschämtheiten verbieten, aber nicht ohne vorher abgewogen zu haben, in welchem Verhältnis dieses Verbot zu der Verletzung steht, die sie angerichtet hat. Was jedenfalls nicht mehr geht, ist zu sagen: das ist dermaßen unverschämt, das ist „Schmähkritik“. Und damit von vornherein aus dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit ausgenommen.
Heute hat die gleiche 3. Kammer des Ersten Senats (in etwas anderer Besetzung) einen Beschluss veröffentlicht, der diesem Befund juristisch nichts Neues hinzufügt, aber noch mal einen deutlich krasseren Fall betrifft als die „Spanner“- und „Durchgeknallte-Staatsanwältin“-Fälle des letzten Jahres. Es ging um den grünen Bundestagsabgeordneten Volker Beck, der anlässlich einer rechtsextremen Kundgebung an einer Gegendemo teilgenommen hatte und daraufhin von dem rechtsextremen Versammlungsleiter mit folgenden Worten bedacht worden war:
„Ich sehe hier einen aufgeregten grünen Bundestagsabgeordneten, der Kommandos gibt, der sich hier als Obergauleiter der SA-Horden, die er hier auffordert. Das sind die Kinder von Adolf Hitler. Das ist dieselbe Ideologie, die haben genauso angefangen.“
Ich wäre nicht überrascht, wenn dieser Beschluss eine große Welle macht: Empörung von konservativer Seite nach dem Motto „Wir müssen uns wegen dieser liberalen Gutmenschen jede noch so krasse Beschimpfung gefallen lassen!“ und Triumph von rechtspopulistischer Seite nach dem Motto „Wir müssen uns von diesen liberalen Gutmenschen nicht den Mund verbieten lassen!“ Das war schon im letzten Jahr falsch und ist es auch in diesem.
Ich halte, auch das ist nichts Neues, die Position des BVerfG für konsistent und rechtspolitisch richtig. Meinungsfreiheit heißt nicht und hieß noch nie: Niemand darf mich kritisieren, wenn ich sage, was ich sagen will. Das Recht auf freie Meinungsäußerung ist bekanntlich „schlechthin konstituierend“ für die Demokratie und die Grundbedingung aller Freiheit überhaupt, weil sie möglich macht, sich als Freie und Gleiche miteinander auseinanderzusetzen: Man muss bestreiten, kritisieren, falsch finden können, was jemand anders behauptet, fordert, gut findet, und umgekehrt – auch und gerade dann, wenn dieser andere viel mächtiger ist als man selbst. Wer aber seine Meinung nicht als Gegenstand von Auseinandersetzung, nicht als bestreitbare Position, sondern als Fakt äußert, die man unbestritten als gültig hinzunehmen hat, der übt nicht sein Grundrecht auf Meinungsfreiheit aus. Der übt Gewalt. Und Gewalt ist nicht, was, sondern wovor Meinungsfreiheit schützt.
Wenn der Pro-Köln-Funktionär Volker Beck einen „Obergauleiter“ nennt, dann kann man das zwar empörend dumm und gemein finden, aber ist das verbale Gewalt? Nein. Das ist bestreitbar. Darüber kann man sich auseinandersetzen, zumal im Kontext einer Gegendemo mit dem expliziten Ziel, den Pro-Köln-Funktionär seinerseits an der Ausübung seiner Meinungs- und Versammlungsfreiheit zu hindern, sowie eigenen, ihrerseits nicht eben zimperlichen Äußerungen von Beck („braune Truppe“, „rechtsextreme Idioten“).
Hätte er dagegen „Arschloch“ gesagt oder „Schwein“ oder „Stück Scheiße“, hätte er ihn mit einer homophoben, sexistischen oder rassistischen Beschimpfung belegt, hätte er ihn also qua Existenz gerade keiner Auseinandersetzung für würdig erklärt, dann wäre das etwas anderes. Das ist dann Schmähkritik, die von vornherein aus dem Schutzbereich von Art. 5 GG herausfällt. (Man kann auch Hate Speech dazu sagen.)
Diese Differenzierung, und nicht mehr oder weniger, ist es, die das BVerfG der Strafjustiz abverlangt. Sie muss als schutzwürdig anerkennen, was das Grundgesetz schützt, nämlich die geistige Auseinandersetzung, und sei sie noch so dumm und niederträchtig. (Was natürlich keineswegs heißt, dass alles gleich geschützt ist, weil es dann ja noch auf die Abwägung mit dem Persönlichkeitsrecht des Angegriffenen ankommt.) Das ist weder ein Skandal noch ein Triumph, sondern ziemlich normal. Und doch ein Grund zur Dankbarkeit in diesen aufgeregten Zeiten.