In dem aktuellen Drama um Griechenland sehen sich zwei europäische Politiker mit der Erwartung konfrontiert, etwas offensichtlich Richtiges, aber gleichzeitig offenkundig Unmögliches zu tun.
Alexis Tsipras soll aus Griechenland endlich einen funktionalen Staat machen, Korruption und Vetternwirtschaft beenden, Steuern erheben, den ökonomischen Eliten einen adäquaten Beitrag abverlangen. Das ist doch offensichtlich! Da kann doch niemand dagegen sein, schon gar nicht eine linke Systemveränderungspartei, die sich die Sache der kleinen Leute auf ihre Fahnen geschrieben hat!
Angela Merkel soll Griechenland endlich aus der Schuldenfalle rauslassen, Wachstum und damit am Ende auch Schuldendienst endlich wieder möglich machen, anstatt das Land auf Menschenalter hinaus ins Elend zu stoßen und zu kosovarisieren. Das ist doch offensichtlich! Da kann doch niemand dagegen sein, schon gar nicht eine ansonsten jeder ideologischen Verhärtung abholden Pragmatikerpartei, die für Europa Verantwortung trägt wie keine zweite!
Wenn das so offensichtlich ist, warum tun sie es dann nicht? Die nahe liegende Antwort scheint zu sein, dass es sich um Idioten bzw. Schurken handelt. Es laufen in Deutsch- wie in Griechenland eine Menge Leute herum, die genau diese Art von personalisierender Kompetenz- und Motivationsdiagnostik mit großer Lautstärke betreiben: Tsipras sei ein dilettantischer Spinner/brandgefährlicher Sozialexperimentator mit Leninbärtchen/beutegieriger Abzocker (ein Grieche halt)! Merkel sei eine triefäugige Aussitzerin/eiskalte Niedrigzinskolonialistin mit Hitlerbärtchen/beutegierige Abzockerin (eine Deutsche halt)! Selbst wenn unter der Kruste denunziatorischer Geschichtsvergleiche und Ethnopsychologisierei ein Körnchen Wahrheit stecken sollte (was ich nicht glaube) – das erklärt überhaupt nichts.
Mir scheint ein anderer Punkt interessanter.
Beiden, Tsipras wie Merkel, ist gemeinsam, dass ihnen abverlangt wird, ihre Macht gleichsam auf sich selber zu richten. Beide sind als mächtigster Mann Griechenlands bzw. mächtigste Frau der Eurozone aufgefordert, justament das, was ihnen diese Macht verleiht, zu zerstören. Wenn Machtallokation in Griechenland nun einmal über Klientelnetzwerke stattfindet, wie soll man dann von der solchermaßen allozierten Macht erwarten, diese Klientelnetzwerke aufzubohren? Wenn Machtallokation in der Eurozone nun einmal über Stabilitätsregeln und Exportüberschüsse stattfindet, wie soll man dann von der solchermaßen allozierten Macht erwarten, diese Stabilitätsregeln und Exportüberschüsse aufzubohren? Natürlich soll man, keine Frage. Aber es wird halt nicht passieren. Jedenfalls nicht nur deswegen, weil man es erwartet.
Politik, so ist das nun einmal in einer funktional differenzierten Gesellschaft, kann am Ende immer nur Politik. Das ökonomisch bzw. moralisch Richtige tut sie dann und nur dann, wenn sich der Wert- bzw. Gerechtigkeitsgewinn in ein Mehr an Macht übersetzen lässt. Das kann man schlimm finden, das hilft aber nichts. In der Logik der Politik haben Tsipras und Merkel aber prima vista jeweils überhaupt nichts zu erwarten, wenn sie das Richtige tun, außer den sofortigen Verlust ihrer Macht. Sie wären beide sofort weg vom Fenster.
Solange das so ist, wird diese Krise kein friedliches Ende finden.
Vor diesem Hintergrund könnten die so verwirrenden und bestürzenden Ereignisse der letzten Woche doch einen gewissen Sinn, wenn nicht sogar Anlass zu vorsichtigem Optimismus geben.
Das Referendum vom letzten Sonntag hatte, so irre es auch aus Eurozonen-Perspektive in der Verhandlungssituation Ende letzter Woche erscheinen musste, zwei Effekte: Zum einen hat es der griechischen Gesellschaft einen knüppelharten Vorgeschmack darauf beschert, wie es sich anfühlt, wenn der Euro weg ist. Zum anderen hat sich Tsipras‘ Machtbasis von den 35 Prozent Gewerkschaftlern, Ex-PASOK-Klienten und sonstigen Stakeholdern am alten griechischen Klientelsystem, die ihn im Januar gewählt haben, auf die 61 Prozent Griechinnen und Griechen verlagert, die am Sonntag mit OXI gestimmt haben. Wer weiß – vielleicht war es das, was nötig war, um Tsipras einen Nixon-goes-to-China-Moment zu ermöglichen.
Zum anderen aber hatte auch Merkel in diesen Tagen jede Menge Möglichkeiten, ein finsteres Gesicht zur Schau zu tragen und sich im Zähneknirschen und Kopfschütteln über diesen unmöglichen Tsipras mit ihrer Partei und Fraktion einig zu wissen. Obendrein hat auch noch Sigmar Gabriel ihr den Gefallen getan, sie im Griechen-Bashing rechts zu überholen, was den Reiz hat, ihn am Sonntag mit einer Einigung blöd aussehen lassen zu können. Und dann ist auch noch die US-Regierung aus der Deckung gekommen und fordert jetzt offen und lautstark einen Schuldenschnitt. Bis Sonntag spitzt sich das Klima jetzt noch ordentlich zu, der Euro fällt tüchtig und der DAX auch – und dann, wer weiß, ist das Geschlotter auch in Deutschland so groß, dass sich am Ende doch auch machtpolitisch ein Fenster auftut, das Richtige zu tun.
Darauf will ich jetzt mal hoffen. Denn wenn nicht – dann wird alles ganz, ganz furchtbar.